Gastbeitrag: Schmerz – eine wahre Geschichte
Themen: Neues |Ich weiß nicht, wann und wie ich über Daniel Spiegelberg gestolpert bin. Bei Facebook irgendwie. Ein Typ, dessen Kommentare ich meist blind unterschreiben kann, dessen Humor ich teile – und der auch noch in Düsseldorf lebt! Blutsbruder im Geiste halt.
Neulich war er zwei Wochen lang wie vom Erdboden verschluckt – im Sinne von: er postete nichts auf Facebook. Dann kam er zurück. Mit einer Geschichte, die so schmerzhaft, aber so klasse erzählt ist, dass sie es verdient, aus dem Ghetto des sozialen Netzwerks geholt zu werden. Also bat ich ihn, sie hier reposten zu dürfen.
Nehmt euch die Zeit – das hier ist eine Stunde eures Wochenendes wert. Lasst seinen Schmerz euer Entertainment sein. Und wünscht ihm gefälligst gute Besserung.
Die Geschichte meiner Hüfte
von Daniel Spiegelberg
Montag, der 26. Oktober 2015, kurz vor 17 Uhr. Schon seit Tagen bemerke ich einen zunehmenden Schmerz in der linken Hüfte. Seit vorgestern ziehe ich auch das Bein nach. Es fühlt sich nicht weiter schlimm an, „irgendwas gezerrt, halt“, aber es nervt. Den Tag in der Ambulanz habe ich weitgehend rumbekommen ohne von Patienten oder Mitarbeitern auf das Nachziehen angesprochen zu werden. Jetzt habe ich noch kurzen Dienst bis 23 Uhr, dann nach Hause, eine Ibuprofen, und morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.
Im Verlauf des Dienstes muss ich relativ viel laufen und mehrfach in Rettungswagen ein- und wieder aussteigen. Der Schmerz nimmt zu. Er ist weit jenseits von einschränkend, aber auch nicht weg zu diskutieren. Mein letzter Ausstieg aus einem Rettungswagen sorgt für hochgezogene Augenbrauen bei Rettungssanitätern und Ordnungsbeamten. „Alles klar, Doc?“ „Klar, geht schon. Den Patienten auf 2D, bitte, die wissen Bescheid. Ich komme gleich hinterher gehumpelt.“
Der Dienst geht vorbei, ich fahre nach Hause. 4. Stock ohne Aufzug, wie konnten wir uns seinerzeit bloß darauf einlassen? Es geht aber. Wenn auch etwas langsamer als gewohnt.
Dienstag, der 27. Oktober. Ich stehe auf. Beziehungsweise, ich versuche es. Es tut weh. Die ersten Schritte sind beschwerlich und unsicher, dann geht es aber. Ich humpele in die Küche und mache mir einen Kaffee. Hinsetzen und Aufstehen schmerzen ebenfalls. Ich rufe auf der Arbeit an und melde mich krank. So hat das keinen Sinn. Ich muss am Tag ca. 5 Kilometer laufen und mich ca. 60 mal hinsetzen und wieder aufstehen. 5 Kilometer humpeln und 120 mal die Zähne zusammen beißen und „Kacke!“ zischen – klingt nicht sehr vernünftig.
Um 9:45 Uhr arbeite ich mich die Treppe runter. Runter ist tatsächlich noch blöder als rauf, ist aber zu machen. Ich fahre zur Ellerstraße, parke und humpele zur Praxis meines Hausarztes. Wie immer werde ich an ca. 16 Patienten vorbei gewunken, die alle vor mir da waren. Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass das wirklich nicht notwendig ist. Ich kann warten wie alle anderen auch, und die anderen sind sicher auch nicht zum Spaß hier. Es nützt aber nichts. Ich bin Kollege, habe da mal ein Praktikum gemacht und gehöre zur erweiterten Familie. Vorzugsbehandlung inklusive, auch ohne Privatversicherung.
Ich bin noch keine 10 Minuten da und Doc Küpper steht vor mir. „Daniel, washasse.“ Ich schildere den Verlauf und die Beschwerden. Ich lasse dabei unvorsichtigerweise das Buzz-Word „Anlaufschwierigkeiten“ fallen. Das hätte ich nicht machen sollen. Ärzte suchen bei der Diagnose-Findung immer nach einem Wegweiser. „Anlaufschwierigkeiten“ oder „Losgeh-Schmerz“ ist bei jedem, der Medizin studiert hat, untrennbar mit „Arthrose“ vergesellschaftet. „Daniel, klingt nach Arthrose. Wie alt bisse? 34?“ „39“. „Bisse früh dran. Kommt aber vor. Müssenwa röntgen.“ Ich bekomme eine Überweisung, eine Krankmeldung und einen Streifen Ibuprofen in die Hand gedrückt. Das Röntgen-Institut um die Ecke hat das Röntgen-Gerät kaputt, wie man mir mitteilt, Sprechstundenhilfe Marion sucht mir eine Röntgen-Praxis in meiner Nähe raus. Bismarck-Straße, direkt am Hauptbahnhof. Sie versucht, dort anzurufen, nach 12 Minuten Warteschleife sage ich „Lass gut sein, Marion. Ich kümmere mich selber drum. Ich hab Zeit, ihr nicht.“
Eine halbe Stunde später bin ich wieder zu hause. Ibuprofen wirkt ganz gut. Laufen ist weiter eingeschränkt, aber Sitzen tut jetzt nicht mehr weh. Ich versuche mehrfach, in der Röntgen-Praxis anzurufen. Ich gerate jeweils in die Warteschleife, die von einem 15-sekündigen Loop aus barocker Kammer-Musik akustisch untermalt wird, die zu allem Überfluss auch noch auf einem nicht aufgelösten Sept-Akkord endet, bevor sie von vorne anfängt. Mit der Musik soll erkennbar der Unterschied im sozialen Status zwischen den Radiologen und dem AOK-Pöbel verdeutlicht werden. Meine Ohren beginnen zu bluten. Nachdem 6 Versuche a‘ 10 Minuten binnen 3 Stunden keinen Erfolg gebracht haben, googele ich die Praxi. „Sprechstunden werktags von 8 – 18 Uhr und nach Vereinbarung“, steht da. Klingt für mich, als käme man da auch ohne Termin dran. Ich beschließe, am nächsten Tag hinzufahren.
Am nächsten Tag wache ich steif und schmerzerfüllt auf. Der Weg die Treppe runter erscheint mir nicht unmöglich, aber auch nicht attraktiv. Ich beschließe, meiner Hüfte einen Tag Ruhe zu gönnen und morgen hinzufahren.
Donnerstag, der 29. Oktober. Ich gönne mir ein Taxi und fahre zur Bismarckstraße. Die Praxis liegt direkt neben einer Niederlassung von Großbritannien, wo man Visa und ähnliches beantragen kann. Was dafür sorgt, dass in der Röntgen-Praxis selbst offenbar im 5-Minuten-Takt verwirrte Briten vorstellig werden, die auf der Suche nach einer Ausreise-Möglichkeit sind. Das Personal verzieht jeweils keine Miene und deutet höflich auf den Eingang zwei Türen weiter. Die initial sehr lange Schlange vor der Theke wird so binnen weniger Minuten erfreulich ausgedünnt. Und ich weiß nun auch, warum ich telefonisch keinen dran bekommen habe: Hinter der Theke sitzen zwei Arzthelferinnen. Eine ist für den unmittelbaren Kundenkontakt zuständig, die andere für das Telefon. Und das klingelt ohne Unterlass. Sie wickelt einen Anruf nach dem anderen ab, drückt den nächsten leuchtenden Knopf, der jemanden in der Warteschleife zu ihr durchstellt, und immer so weiter. Das wäre ja der ideale Job für mich, so was. Wieviel Gefluche und Gepöbel sich die arme Frau wegen der langen Warteschleifen-Zeiten tagtäglich anhören muss, kann ich nur mutmaßen.
Dann darf ich mein Anliegen vorbringen. „Haben Sie einen Termin?“ „Leider nein. Ich dachte…“ „Tut mir Leid, ohne Termin geht hier leider gar nichts. Der nächste freie Termin ist, Moment,… nächste Woche Freitag um 9:15 Uhr“
„Hören Sie, ich bin ärztlicher Kollege. Und es tut wirklich fies weh. Und ich brauche nur eine Becken-Übersicht, das dauert 5 Minuten. Da wird doch sicherlich was zu machen sein.“ – hätte ich sagen sollen. Aber bei so was versagt’s bei mir regelmäßig. „OK, kann man nichts machen. Dann komme ich nächste Woche Freitag. Danke!“, höre ich mich statt dessen sagen.
Wieder zu hause. Ich rufe bei meinem Hausarzt an und schildere die Misere. „Jau, das hören wir im Moment öfter. Die Röntgen-Praxen sind derzeit alle ausgebucht. Musste jetzt warten.“ Eine Verlängerung der AU wird mir zugeschickt.
Eine Woche Wartezeit. Unschön, aber es könnte schlimmer sein. Mit Ibuprofen sind die Schmerzen einigermaßen im Griff, zumindest, wenn ich mich nicht bewege. Viel Zeit, um zu recherchieren. Hüft-Arthrose kommt eigentlich nicht in Frage. Das ist die Erkrankung des über 60-Jährigen und sie beginnt in aller Regel schleichend. Und nach morgendlichen Anlauf-Schwierigkeiten kann man damit in aller Regel schmerzfrei den Tag verbringen, erst abends tut es wieder weh. Sei es, wie es sei, ohne Bildgebung ist es nicht zu sagen.
Mein Gehumpel wird während der Woche schlechter, die Schmerzen nehmen zu. Immer noch weit weg von „Unerträglich!“, aber unangenehm und einschränkend. Bei jedem Hinsetzen und Aufstehen verziehe ich das Gesicht. Auch der Schlaf wird unruhiger, weil auch die Bewegung in der Horizontalen langsam schmerzt. Aufstehen aus dem Bett wird immer schwieriger. Beim Gang durch die Wohnung halte ich mich immer häufiger an den Möbeln fest und stütze mich an den Wänden ab. Die ersten Schritte hüpfe ich, mehr oder weniger, auf dem gesunden rechten Bein. Einmal fahre ich noch einkaufen, schleppe alles nach oben und bereue den Ausflug auf der Stelle.
Freitag, der 6. November. Ich lasse mich wieder mit dem Taxi zur Bismarck-Straße fahren. Wenn ich das in der Vorwoche noch aus Vorsicht tat, tue ich es jetzt aus Notwendigkeit. Im Taxi klingelt mein Telefon, ich bekomme es nicht rechtzeitig aus der Hosentasche, um dran zu gehen. Verpasster Anruf. Die Nummer kommt mir vage bekannt vor. Ich rufe zurück. Und lande in einer Warteschleife mit barocker Kammer-Musik, die – ihr wisst schon. Der Taxi-Fahrer lässt mich vor der Praxis raus. Der Bordstein ist ziemlich hoch. Ich starre ihn eine Minute an und versuche, den Mut zusammen zu bringen, auf ihn zu steigen. Eine junge Frau fragt mich noch, ob ich Hilfe brauche. Ich verneine tapfer lächelnd. Ich hüpfe den Bordstein rauf, fluche gequält in mich rein und betrete die Praxis.
„Gutem Morgen, Spiegelberg, ich habe einen Termin zum Röntgen um 9:15 Uhr. Und ich glaube, Sie haben eben versucht, mich anzurufen?“ „Morgen Herr Spiegelberg. Ja, haben wir. Tut uns Leid, aber das Röntgen-Gerät ist defekt. Wir müssten Ihnen einen Termin anbieten.“ Keine versteckte Kamera, kein Guido Cantz weit plus breit. Die meinen das ernst. Immerhin: Ich bekomme einen Termin für den kommenden Montag, selbe Zeit. Bis dahin werde alles repariert und einsatzbereit sein, sichert man mir zu.
Das Wochenende verläuft im Wesentlichen wie gehabt. Nicht gut, aber aushaltbar. Mick kümmert sich um alles, mir fehlt an nichts.
Montag, der 9. November. Ich fahre zum 3. Mal mit dem Taxi in die Bismarckstraße, Das Gerät ist repariert, ich müsste nur noch kurz im Wartebereich Platz nehmen. Ich nehme den Sessel, der den Untersuchungszimmern am nächsten ist. 10 Minuten später werde ich aufgerufen. Ich hangele mich an der Wand lang und lege mich ächzend auf den Röntgen-Tisch. Für die s. h. Lauenstein-Aufnahme muss ich das linke Bein anziehen und das Knie so weit wie möglich nach links unten drücken. Es tut beschissen weh. Aber es gelingt. Draußen bekomme ich nach 5 Minuten die unbefundeten Aufnahmen in einer Tüte mitgegeben und lasse mir ein Taxi kommen. Der Taxi-Fahrer lässt mich in der Ellerstraße raus. Ich muss 30 Meter zu Fuß gehen um die Praxis zu erreichen. Nach 3 Schritten möchte ich eigentlich weinen. Es geht nicht. Ich bin kurz versucht, in der Praxis anzurufen: „Ich stehe quasi vor eurer Tür. Könnt ihr mich vielleicht abholen?“, und träume von einem Rollstuhl. Aber ich bin keine Lusche. Immer an der Fassade lang, es geht. Langsam, aber es geht.
Ich komme in der Praxis an. Ich bin schweißgebadet, schaffe es kaum in den Untersuchungs-Bereich. Marion und Irina schauen mich ungläubig an: „Was ist denn mit DIR los?“. „Alles schlimmer geworden. Aber ich hab die Aufnahmen. Hier.“
Doc Küpper kommt und schaut sich die Bilder an. „Jau, wie ich dachte. Sisse? Da is schon Knochen auf Knochen“ erläutert er, und zeigt auf den Gelenk-Spalt. Für die Nicht-Mediziner: Hüft-Arthrose meint den Verschleiß des Gelenks. Zwischen der Hüftpfanne und dem Oberschenkel-Knochen befindet sich eine Knorpel-Schicht, die schmerzfreies und, im Wortsinn, reibungsloses Gleiten des Gelenks möglich macht. Bei Arthrose verschwindet dieser Knorpel langsam aber stetig. Die beiden Knochen reiben bei jeder Bewegung aufeinander. Genau so fühlt sich das auch an.
Therapie: Künstliches Hüft-Gelenkt. Küpper ist Allgemein-Mediziner und kein Orthopäde (und, wie wir noch erleben werden, auch kein Radiologe). „Wir warten jetzt erst mal den Befund ab. Du machst aber schon mal Termin bei den Orthopäden im Vinzenz. Sollen die sich was einfallen lassen. Und bis dahin sehen wir erst mal zu, dass wir Dich schmerzarm kriegen“. SchmerzARM. Nicht –frei. Schöne Aussichten. Ich bekomme zwei Unterarm-Gehstützen (das hieß früher „Krücken“) und ein Rezept für Tramadol. Das ist das eine Zeug, das gerade so eben NICHT vom Betäubungsmittel-Gesetz erfasst wird. Außerdem noch Cortison für eine Woche, um die anzunehmende Entzündung in Zaum zu halten.
Wieder zu Hause mit den Gehstützen komme ich gut zurecht, das Bein ist entlastet und die Drogen wirken gut. Ich mache einen Termin in der orthopädischen Sprechstunde im Vinzenz-Krankenhaus aus. Ich lese mir im Netz alles durch, was man über künstliche Hüftgelenke und ihren Einbau wissen kann. Klingt erst mal nicht sehr dramatisch. Gibt sicher Schöneres, aber bitte. Hauptsache, die Schmerzen hören auf und ich kann wieder arbeiten. Der Termin ist kommende Woche Mittwoch. Diese Woche Donnerstag soll ich noch mal bei Küpper anrufen und mich nach dem Röntgen-Befund erkundigen.
Donnerstag, der 12. November. Ich stehe auf und gehe an Krücken in die Küche. Ich mache mir einen Kaffee. Ich möchte ihn mit zum Rechner nehmen, um gleichzeitig Nachrichten lesen zu können. Das gleichzeitige Benutzen von Unterarm-Gehstützen und der Transport einer Tasse Kaffee gestaltet sich schwierig. Beim ersten Versuch verschütte ich ein Sechstel des Tassen-Inhalts auf den Boden. „Grmpfft!“ fluche ich und stelle die Tasse wieder ab. Schon gut, dann trinke ich sie eben hier. Ich leere die Tasse am Küchentisch.
Ich stehe wieder auf.
Ich stabilisiere mich mit beiden Krücken.
Ich bemerke nicht, dass die linke Krücke in der Kaffee-Lache zum Stehen kommt.
Ich beginne, mich auf dem rechten Fuß zu drehen, um die Küche zu verlassen. Ich verlagere dabei den Großteil meines Gewichts auf die Krücke in der linken Hand.
Die Krücke rutscht weg. Ich destabilisiere. Reflexartig mache ich einen Ausfall-Schritt mit dem linken Bein. Und trete mit diesem mit meinem vollen Gewicht auf.
Eine halbe Nano-Sekunde später wird aus der linken Hüfte nach oben gefunkt, dass hier gerade ganz gewaltig was schief gegangen ist.
Es ist ein altes Roman-Klischee, aber ich kann es beim besten Willen nicht treffender formulieren:
Der Schmerz explodiert in meinem Kopf. Ich schreie. Laut. Und lange. Ich versuche, gleichmäßig zu atmen. Jetzt nur nicht das Bewusstsein verlieren. Wenn ich jetzt auch noch umfalle, dann gnade mir Gott.
Ich werde nicht bewusstlos. Ich stehe ungefähr zwei Minuten nur so da, beiße die Zähne zusammen und warte, dass der Schmerz nachlässt. Das tut er dann auch endlich. Er ist weiterhin da, aber unter der Oberfläche. Ich schleppe mich vor den Rechner und lasse mich LANGSAM auf den Büro-Stuhl gleiten. Der Schmerz flammt noch einmal auf, aber nicht mehr so wie eben.
Ich werfe Ibuprofen, Tramadol und, sicherheitshalber auch noch, Aspirin ein. Es dauert fast eine Stunde, aber dann wird der Schmerz merklich weniger. Es puckert nur noch. Heilige Scheiße.
Ich warte, dass es 10 Uhr wird, und rufe in der Praxis an. Marion liest mir den Befund vor. Er ist vollkommen unauffällig. Kein Anhalt für Arthrose, kein Abbau, keine Fraktur, keine Entzündungszeichen – nichts. Blande. Nada.
Ich spreche mit Küpper. Er kann sich da auch keinen Reim drauf machen. Aber nun hätte ich ja den Termin in der Orthopädie, „müssen die gucken, was da los ist“, und Schmerztabletten. Nun müssten wir abwarten.
„Kann Hexenschuss sein, kann aber auch Fascia lata sein“, meint er noch zu mir. „Fascia lata-Syndrom“ ist eigentlich eine Sportler-Erkrankung, kommt aber auch bei Leuten wie mir vor. Dabei springt eine dicke Sehne unvorgesehen über einen knöchernen Vorsprung. Das geht mit Schmerzen und einem Gefühl des Schnappens/ Springens einher. Könnte passen.
Trotz der Schmerzen habe ich erst mal gute Laune. Keine Arthrose zu sehen, ein künstliches Hüftgelenk wird also eher nicht notwendig sein. Ich gehe davon aus, dass die Schmerzen bei Schonung nachlassen werden und mache mir auch erst mal keine Sorgen, wie ich nächste Woche zum Termin in der Orthopädie kommen soll. Wird schon irgendwie gehen.
Ich verbringe den Tag am Schreibtisch vor dem Rechner. Circa alle 2 Stunden versuche ich, aufzustehen. Keine Chance. Selbst, wenn ich das linke Bein komplett unbelastet lasse – schon der Versuch, mich auch nur andeutungsweise in die Vertikale zu begeben, wird mit bösartigem Brüllen aus der linken Hüfte quittiert. Ich muss warten, bis Mick nach Hause kommt. Alleine schaffe ich das nicht. Mir fällt ein, dass die Wohnungstür von innen verriegelt ist. Nicht abgeschlossen, sondern mit einem Drehriegel von innen blockiert. Den kann man nur von innen aufmachen, Mick kann also nicht rein kommen. Ich werde es irgendwie bis zur Wohnungstür schaffen müssen. Sonst bin ich hier gefangen. Aber auch im 8. Versuch schaffe ich es nicht im Ansatz, mich mit Krücken hinzustellen. Von Bewegung in Richtung Wohnungstür ganz zu schweigen. Mir fällt ein, dass ich auf einem Bürostuhl sitze. Der hat Rollen. Ich brauche zehn Minuten, um mich bis zur Wohnungstür vorzuarbeiten, der Teppich im Flur stellt das größte Hindernis dar, denn ich muss auf ihn rauf- und wieder runter rollen. Mit viel Kraft und Willen schaffe ich es darüber. Die Schmerzen nehmen wieder zu. Aber ich bekomme die Tür auf. Immerhin.
Mick kommt gegen 19 Uhr nach Hause. Ich schildere ihr das Dilemma, sie ist besorgt und will, dass ich den Rettungsdienst rufe. Ich beschwichtige, halb so wild, durch die Belastung ist jetzt erst mal alles überreizt, es wird sicher wieder besser werden. Ich erläutere ihr die neuen Verdachtsdiagnosen. Sie nimmt es erst mal hin. Wir essen was und schwatzen. Irgendwann werde ich müde. Mit viel Gejaule und einem erneuten Schweißausbruch schaffe ich den Transfer vom Stuhl ins Bett. Die Geflügel-Schere verwandelt eine leere Sprudel-Flasche in eine Urin-Flasche. Für falsche Scham ist jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt. Ins Bad zu kommen ist out of the question. Nach einigem Wälzen finde ich eine Position bzw. Schonhaltung, in der ich schmerzfrei liegen kann. Ich bin fix und fertig und schlafe schnell ein.
Freitag, der 13. November. Mick geht zur Arbeit. Vorher hat sie noch Medikamente, belegte Brote, Getränke und alles, was ich sonst noch so brauche, um mich herum drapiert. Ich werde den Tag im Bett verbringen. Die Schmerzen sind weiterhin da und verbieten jede Mobilisation.
Abends versuchen wir, mich wieder auf den Stuhl zu bekommen. Ich beiße die Zähne zusammen, schaffe es halb auf den Stuhl. Die Schmerzen sind unerträglich. Ich fange wieder an zu schreien. „GehwiederinsbettgehwiederinsBett!“, weist Mick mich an. Mache ich. Es dauert weitere zwei Stunden, bis die Schmerzen wieder so weit nachlassen, dass es aushaltbar ist. In der Nacht wache ich gegen 2 Uhr auf. Die Schmerzen sind wieder da. Ich will mich auf die andere Seite drehen, um an meine Tabletten zu kommen. I’m in dire need of a fix. Es geht nicht. Ich kann mich nicht drehen. Ich mache das einzige, was bleibt: Ich wecke Mick und bitte sie, mir Ibuprofen, Tramadol und die Wasserflasche zu reichen. Im sicheren Gefühl, dass es gleich besser werden wird, schlafe ich wieder ein.
Bevor es weiter geht, möchte ich die Frage beantworten, die mir seit der ganzen Geschichte am häufigsten gestellt wurde: „Warum, um alles in der Welt, hast Du da nicht schon längst den Rettungsdienst gerufen? Oder am Tag davor? Oder bist in den Wochen davor nichts ins Krankenhaus gefahren? Als Du das noch konntest? Warum, Spiegelberg, warum?!“
Die Antwort ist mehrschichtig und leider nicht sehr gut. Es hat viel mit Intellektualisieren und Neglect zu tun. „Ist ja jetzt nicht so das Drama, wird schon wieder besser werden, was soll ich da jetzt so ein Aufhebens drum machen, mehr als Schmerzmittel geben und wieder nach Hause schicken machen die da sowieso nicht, im Röntgen ist ja auch nichts zu sehen, Rumliegen und Tabletten nehmen kann ich ja auch zu Hause“, und so weiter und so fort. Das ist alles richtig. Aber es ist auch vorgeschoben. Ebenso richtig ist nämlich auch: Ich wollte nicht ins Krankenhaus. Unter keinen, wie auch immer gearteten Umständen. Ich schildere mal kurz, was dahingehend in meinem Kopfkino für ein Film ablief. Der hat nichts Rationales, also bitte hinterher nicht drüber diskutieren wollen. Das ist alles verquaster Käse, unvernünftig und dumm.
Festhalten.
Ich. Habe. Angst. Vor. Krankenhäusern.
Nicht als Arzt. Da bin ich der Koi im Teich. Aber als Patient. Wir machen mal kurz eine Schalte in den Spiegelbergschen stream of consciousness:
„In Krankenhäusern wird man nur noch kränker. Die hören einem da nicht zu. Man bekommt Infektionen. Und außerdem: Ich rauche seit bald 25 Jahren. Bestimmt stellen die da dann Krebs fest. Wenn ich nicht hingehe, habe ich keinen. Zu Hause bin ich sicher. Und Hirntumor bekomme ich im Krankenhaus dann bestimmt auch. Und HIV und Hepatitis und Zirrhose. Da wird alles nur schlimmer. Chirurgen und Orthopäden sind eh keine richtigen Ärzte. Und außerdem wollen die mich bestimmt operieren. Und ich werde da delirant hinterher. Und muss dann in die Psychiatrie. Und muss sterben. Und werde alles verlieren. Und bestimmt stellen die Krebs fest. Ich geh da nicht hin. Niemals, never ever. Zu Hause bin ich sicher.“
Etwa in der Art. Natürlich bin ich erst mal nicht gefahren, weil die Hüfte Ruhe brauchte, und alles besser werden würde. Und das Röntgen-Bild nichts Auffälliges zeigte. Sind halt Schmerzen, da gibt’s Pillen gegen.
In Wahrheit war es aber, da bin ich mir ziemlich sicher, Angst. Angst vor Krankenhäusern an sich. Und, vor allem, Angst, die Kontrolle zu verlieren. Bzw. abgeben zu müssen. Ich erlebe das im Job immer wieder: Wenn ein Patient vor mir sitzt, und ich ihm sagen muss, dass die Möglichkeiten der ambulanten Therapie nunmehr ausgeschöpft sind, und wir um eine stationäre Behandlung nun nicht mehr herum kommen werden. Gerade bei Angehörigen der höheren Einkommens-Klassen kann das in eine sehr lange Diskussion münden. Es wird intellektualisiert was das Zeug hält. „Da wird ich ja bloß noch kränker, wenn ich mit anderen Kranken zusammen bin, da muss ich mir ja deren Sorgen auch noch anhören“, „Ich hab nen Kanarienvogel zu versorgen“, „Ich bekomme so viele Medikamente, die haben sie hier ja alle gar nicht“, „Nächste Woche habe ich einen Zahnarzt-Termin, usw. Letztendlich läuft das meistens auf das Gleiche hinaus: Die Angst vor Kontroll-Verlust. Sich ausliefern zu müssen. Sein Schicksal in die Hände anderer zu legen. Das fällt niemandem leicht.
Und hier liege ich im Bett, und weiß das alles, und mache genau das Selbe. Clever.
Samstag und Sonntag vergehen in der gleichen Weise. Das erste mal, seit meinen Windpocken im Alter von 9 Jahren, dass ich 4 Tage am Stück im Bett liege. Eigentlich gar nicht so übel, aber es geht auch nicht weiter. Die Schmerzen bleiben. Im Liegen und unbeweglich sind sie nur ganz hinten am Horizont, aber bei jedem Positionswechsel sind sie wieder da. So langsam mache ich mir auch Sorgen um Thrombosen. Sicherheitshalber nehme ich jeden Tag 500mg Aspirin. Das schützt zwar nicht groß davor, aber besser als nichts. Mick nimmt mir folgendes Versprechen ab: Am Montag rufe ich bei Doc Küpper an. Und wenn der sagt „Krankenhaus!“, dann geht’s ins Krankenhaus. Sonntagabend gelingt immerhin noch die Mobilisierung auf den Bürostuhl. Aber mehr auch nicht. Ins Bad komme ich weiterhin nicht, weil die Tür für den Stuhl zu eng ist.
Montag, der 16. November 2015. Ich rufe in der Praxis an. Ich schildere Küpper die Lage. Er ist nicht entsetzt, lässt aber, erwartungsgemäß, auch keinen Zweifel daran, wie es nun weiter zu gehen hat. „Wir machen ne Einweisung fertig, und dann ab in die Uni. Dat hat so keinen Wert, dat bringt nix.“ Ich sichere zu, mich morgen von der Feuerwehr abholen zu lassen. Heute bleibe ich noch im Bett, ich will in Ruhe packen (lassen), mich noch wenigstens rudimentär waschen und mich innerlich drauf vorbereiten. „Is ok. Aber morgen fährste!“.
Dienstag, der 17. November 2015. Mit Micks Hilfe habe ich mich im Bett gewaschen, inklusive Haare. Mein Rucksack ist mit Klamotten, Zahnbürste etc .gepackt. Ich wähle die 112. Dem freundlichen Herrn am anderen Ende schildere ich die Situation. Ich weise darauf hin, dass mein Körpergewicht vage oberhalb des Durchschnitts angesiedelt ist, und zudem 4 Stockwerke zu bewältigen sind. „Kein Problem, kriegen wir hin.“ 30 Minuten später stehen 4 Rettungssanitäter in der Wohnung. 3 davon weisen die erforderlichen Möbelpacker-Qualitäten auf, und haben zudem ein mir bis dato unbekanntes Gerät dabei. Es sieht ein bisschen wie eine Sackkarre aus, mit einer Sitzfläche auf halber Höhe, und nennt sich „Rescue-Chair“. Das Ding gleitet tatsächlich, und mit mir darauf, mühelos über die Treppen. Keine 5 Minuten später bin ich im Rettungswagen, und wir sind auf dem Weg zur Uniklinik.
Im Zentrum für operative Medizin (ZOM) werde ich in die Notaufnahme gerollt. Keine 10 Minuten später steht der diensthabende Chirurg bei mir. Ich kenne ihn noch aus meiner Zeit als Konsiliar-Arzt. Er ist ausgesprochen freundlich (wie Übrigens, im Verlauf der kommenden Tag, wirklich ALLE Mitarbeiter der Abteilung)und hört sich meinen Beschwere-Vortrag an. Ich gebe ihm die Röntgen-Bilder von letzter Woche. „Hmm, ja, da ist wirklich nichts zu sehen. Tut das weh?“ fragt er, während er mein linkes Bein anhebt. Ich verkrampfe und ächze hörbar. Chirurgische Diagnostik besteht im Wesentlichen aus dem gezielten Zufügen von Schmerzen. Habe ich schon im Studium gelernt. Der Kollege ist demnach ein Differentialdiagnose-Genie. Volltreffer. „Ah, ok. Gut. Wir würde dann jetzt erst mal die Röntgen-Aufnahme wiederholen, in Ordnung?“ Ich stimme zu.
20 Minuten später werde ich in die Radiologie gefahren. Die beiden Röntgen-Assistenten dort scheinen ebenfalls große Fans der Differentialdiagnose und, obendrein, nicht sehr gerne am Leben zu sein. Sie bewegen das Bein mehrfach hin und her und lassen sich dabei von meinen Verwünschungen und Gewaltandrohungen in keiner Weise beeindrucken. Ich entschuldige mich sofort für meinen rustikalen Tonfall, bitte aber auch gleichzeitig dringend darum, das nicht noch mal zu machen. Wir verbleiben im Konsens und freundschaftlich. Nach den Aufnahmen werde ich wieder in die Notaufnahme gebracht.
Weitere 20 Minuten später steht Kollege Chirurg wieder an meiner Trage. „Herr Spiegelberg! Wir haben uns die Aufnahmen gerade angeguckt. Das werden Sie nicht glauben!“, strahlt er mich an. „Ja? Bitte?“ erwidere ich freundlich. „Das ist ein Bruch. Oberschenkelhals-Fraktur! Ganz klassisch!“ „Bitte?“ „Jau, ganz klassisch. Ermüdungs-Fraktur. War deswegen im ersten Röntgen auch nicht zu sehen. Meistens sieht man die erst, wenn sich die Bruchstücke gegeneinander verschieben – muss irgendwann in den letzten Tagen passiert sein, also das Verschieben.“ In meinem Kopfkino sehe ich eine Kaffee-Lache, einen Ausfallschritt und… besser nicht noch mal dran denken. „Jedenfalls – wir würden das dann operieren. Also, jetzt gleich. Wenn das für sie in Ordnung ist?“
Ich bin verdattert, aber voll da. „Klar, los geht’s!“ „OK. Mein Vorschlag wäre hüftkopferhaltend, dynamische Schraube. Konservativ ist da eher nichts mehr zu machen, und TEP muss ja jetzt nicht“. Im Arztbrief wird das später als „ausführliche Aufklärung über die Behandlungs-Optionen und ihre Risiken“ beschrieben werden. Wurscht. Alles, damit das aufhört. Ehe ich’s mich versehe, habe ich allerhand Formulare unterschrieben, ein OP-Hemdchen angezogen und einen Zugang gelegt bekommen. Man gesteht mir immerhin noch zu, ein paar Minuten zu telefonieren. Mick ist genau so baff wie ich. Sie wird nach Feierabend reinkommen. Meine Mutter dito.
Ich liege wieder auf der Trage auf dem Flur. Meine Mutter kommt vorbei (sie arbeitet als Forschungs-Sekretärin bei den Internisten direkt gegenüber). Wir drücken uns fest. Ein anderer Chirurg nimmt mir noch Blut ab. Dann kommt wieder Kollege Nummer 1: Man wolle vorher noch ein CT machen, „Nur um sicher zu gehen, dass da nichts leuchtet“. Damit ist Folgendes gemeint: Bei einer Fraktur ohne sicheres Trauma muss immer auch an eine maligne Genese, sprich: Krebs gedacht werden. Beim CT mit Kontrastmittel nehmen Krebszellen das Kontrastmittel auf und leuchten auf der Aufnahme. Das CT bringe ich auch noch hinter mich. Glücklicherweise leuchtet nicht das Geringste.
Direkt im Anschluss werde ich schon in Richtung OP gerollt. Nota bene: Ich bin jetzt noch keine 2 Stunden im Gebäude. Die Kollegen sind schnell.
Als ich den OP-Tisch erblicke, auf den ich als nächste rüber rutschen soll wird bei speie übel. Am unteren linken Ende ist in ca. 15 Zentimetern Höhe eine Art Metall-Stiefel eingebaut, in den erkennbar mein linker Fuß soll. Das Anheben meines linken Beins um einen halben Zentimeter ist bereits Veranlassung genug für mich, den Tod herbei zu sehnen. Ich zeige auf die Monstrosität und formuliere, eloquent wie gewohnt, „dä…dä…dädädädä?“, aber man beruhigt mich. Ja, da soll mein Fuß rein, aber erst, wenn die Kollegen von der Anästhesie mich nachhaltig weg gebrezelt haben. Gott sei Dank.
Ich bekomme EKG und Puls-Oxymeter angeschlossen. Die Anästhesistin ist bester Laune und ich nun ebenfalls. Wir unterhalten uns angeregt. Ich bekomme eine Atem-Maske aufs Gesicht, „nur Sauerstoff, Herr Spiegelberg. Medikation ist jetzt drin. Merken Sie etwa noch nichts?“ Nicht das Geringste. Außer, dass ich anlasslos gute Laune habe. Ich zwinkere einmal kurz mit den Augen…
„Herr Spiegelberg? Hallo! Zeit, wieder aufzuwachen! OP ist vorbei, hat alles prima geklappt!“ Ich mache die Augen auf. Ich befinde mich nicht mehr im OP. Die Hüftschmerzen sind… sind… WEG! Verschwunden! Mann!
Dafür schmerzt nun die Außenseite meines linken Oberschenkels. Nicht heftig, aber merklich. Ich bekomme die Augen wieder auf. Ich befinde mich im Aufwach-Raum. Eine freundliche Schwester tritt an mein Bett. „Schmerzen?“ „Jau.“ „OK, das haben wir gleich. Sie nimmt eine Spritze und entleert ihren Inhalt in den Infusionsschlauch an meinem linken Handrücken. Die Schmerzen sind nach 3 Sekunden weg. „Was war das denn?“ „Dipidolor. Geil, ne?“ „Geil“ trifft es ziemlich gut. Ich fühle mich unendlich müde, aber zum ersten mal seit über drei Wochen schmerzfrei. Wunderbar.
Ich döse ein wenig. Die Schwester und den Oberarzt bekomme ich dann aber wieder mit: Meine Sauerstoff-Sättigung ist nur bei 93%. So könne ich nicht auf Station. Ich will einwenden, dass das bei Rauchern normal ist, bin aber zu müde dafür. Man hält mich an, tief und gleichmäßig zu atmen. Mache ich. Immer wieder döse ich weg und werde vom Monitor-Gefiepe wach, wenn die Sauerstoff-Sättigung wieder fällt. Sobald das Gefiepe erklingt, versuche ich, tief zu atmen. Dann verschwindet es wieder. Die Übung wiederhole ich 3 oder 4 mal. Dann darf ich auf Station.
Dort werde ich herzlich willkommen geheißen und in ein Zimmer geschoben. Es ist mittlerweile fast 21 Uhr. Die OP hat länger gedauert als gedacht. Wie man mir später erklären wird, lag das daran, dass mein Oberschenkel-Kopf sehr, sehr hart ist, und es eine Menge Arbeit von mehreren kräftigen Herren gebraucht hat, um die Hüftschraube da rein zu drillen. Mick war da und hat mir mehr Klamotten da gelassen. Ich werde 7 bis 10 Tage dort bleiben müssen.
Ich schlafe wieder ein. Nachts um 3 werde ich noch mal wach, bin noch etwas desorientiert, bemerke aber, dass ich meinen linken Fuß und den Unterschenkel kaum noch spüre. Wie in Watte gepackt. Besorgt klingele ich nach der Nachtschwester. Sie lässt den diensthabenden Kollegen kommen. Die Durchblutung ist tadellos und ich kann alles bewegen. Das sei in Ordnung, so wie mit dem Bein während der OP herumgefuhrwerkt wurde, sei das kein Wunder. 3 oder 4 Tage später ist der Spuk dann auch vorbei.
Am nächsten Morgen ist Chefarzt-Visite. Alles sei gut verlaufen. CT und Labor seien sämtlich unauffällig, man gehe von einer Ermüdungs-Fraktur aus – meine nicht unerhebliche Bio-Masse in Verbindung mit 4. Stock ohne Aufzug. Wir beantragen eine Reha, bestellen den Physio-Therapeuten und einigen uns auf Biomassen-Reduktion im Sinne einer Rückfall-Prophylaxe. Hatte ich ohnehin vor.
Ich bekomme mindestens dreimal täglich Besuch. Mick, Norbert, Thomas, meine Eltern, meine Bruder, meine liebe Freundin Verena. Ich werde in Büchern, Zeitungen und DVDs begraben. Entgegen jeder Annahme ist mir nicht eine Minute langweilig. Sogar das Mittagessen ist, bis auf einen Total-Ausfall am ersten Tag, lecker und gut. Morgens und Abends gibt es ein rollendes Buffet. Das Pflegepersonal ist, trotz Unterbesetzung (die ich nicht mal mitbekommen hätte, wenn es mir eine Schwester im Spätdienst nicht erzählt hätte) freundlich, aufmerksam und immer hilfsbereit und gut aufgelegt. Ich fühle mich durchgehend gut aufgehoben und kompetent behandelt und umsorgt. Ich ziehe meinen Hut.
Ende der Woche kommt mein erster Physio-Therapeut. Er mobilisiert mich erst auf die Bettkante, dann in den Rollstuhl. Mit seiner Hilfe komme ich zum ersten Mal seit einer Woche wieder aufs Klo. Ich schließe ihn in mein Nachtgebet ein. Mit dem Rollstuhl komme ich nach 3 Tagen auch zum ersten mal wieder vor die Tür und kann eine Zigarette rauchen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte mal eine SO genossen habe. Mit dem Rollstuhl unternehme ich kleine Ausflüge, sitze in der Sonne und habe endlich wieder richtig gute Laune.
Nebenbei habe ich den coolsten Zimmernachbarn, den man sich nur wünschen kann. Er steht morgens auf, wäscht sich, frühstückt, macht seinen Fernseher an, steckt sich die Hörer in die Ohren und verharrt in dieser Position bis 23 Uhr. Dann macht er aus und schläft. Jeden Tag. Aus den Gesprächen in seiner Visite bekomme ich mit, dass man ihm wegen chronischer Rückenschmerzen gerade drei Wirbel versteift hat. Ein Blick auf den Patienten-Aufkleber an seinem Fußende teilt mir mit, dass er gerade mal ein Jahr älter ist als ich. Holy fuck.
Nach dem Wochenende kommt Physiotherapeut Nummer 2. Er hat erst mal Bedenken, mich nach Hause zu lassen. Der Kollege aus der Vorwoche habe ihm übergeben, dass ich selbst mit Gehbock noch sehr unsicher sei. War ich auch. Mein Gedanke bei den ersten Schritten war: „Ein falscher Schritt, einmal gewackelt oder gar gestürzt – gehe zurück auf Los!“. Aber ich habe übers Wochenende geübt. Er lässt mich am Barren laufen. Es klappt gut. Er gibt mir zwei Unterarmgehstützen –ich laufe über den Stationsflur. Am Schluss habe ich immer noch Energie. Wir gehen eine Treppe rauf und wieder runter. Auch das klappt. Mein Stations-Arzt kommt vorbei. „Grünes Licht von mir!“ ruft ihm der Therapeut zu und unterstreicht den Satz mit beiden Daumen nach oben.
Mittwoch, der 25. November 2015. Die Düsseldorfer Feuerwehr fährt mich wieder nach Hause. Erneut sind Kollegen mit Möbelpacker-Qualitäten dabei. Der Rescue-Chair funktioniert, so erklärt man mir, nur Treppe runter, nicht rauf. Ich werde im Stühlchen, sänftengleich, nach oben getragen. Die Katzen freuen sich nen Ast.
Und jetzt bin ich wieder hier. Eingeschränkt, aber an Krücken mobil. Norbert hat mir Medikamente und Anti-Thrombose-Spritzen aus der Apotheke geholt, nachdem er in der Praxis Küpper das entsprechende Rezept abgeholt hat.
Die nächsten 5 Wochen darf ich das linke Bein gar nicht belasten, dann soll mit Hilfe von ambulanter Physio-Therapie ein Belastungs-Aufbau erfolgen. Wenn ich wieder zu 100% belasten darf, geht es in die Reha. Vor Mitte Februar werde ich nicht wieder arbeiten können.
Und wenn ich die Warnung, jetzt endlich mal mein Gewicht zu reduzieren, nicht ernst nehme, dann ist mir wirklich nicht mehr zu helfen. Klar gibt es Leute, die wesentlich dicker sind als ich. Aber ICH bin der mit der Hüft-Fraktur. Jetzt ist wirklich mal gut.
Und bevor ihr jetzt alle sagt, was schon alle gesagt haben: Ihr habt Recht. Beim nächsten mal, wenn es denn eins geben sollte, wird früher in die Notaufnahme gefahren. Ehrenwort.
Ich bedanke mich bei allen, die mich in den letzten Wochen bei Laune gehalten haben. Bei Mick, Thomas, Norbert, meiner Familie, bei Verena, beim Team der ZN23, und da ganz besonders bei den Physio-Therapeuten. Und beim Düsseldorfer Rettungsdienst. Und bei euch hier auf Facebook, für die lieben Genesungs-Wünsche und die aufbauenden Anfeuerungen. Danke.
Und bei Oliver Samsara, der mich zu später Stunde noch unverhofft vor der Klinik besucht und mich glänzend unterhalten hat.
Und damit genug von diesem Kapitel. Der nächste Post wird hoffentlich wieder lustig. Die Woche im Krankenhaus gäbe noch allerhand für weitere Erzählungen her, aber der Text ist jetzt schon deutlich zu lang. Euch allen einen schönen Abend. Wenn ihr mir eine Freude machen wollt, dann stellt euch jetzt hin und hüpft zwei- oder dreimal auf und ab. Einfach, weil ihr das könnt. Und denkt dabei an mich, und drückt mir die Daumen, dass ich das auch bald wieder kann. Ist nämlich ne tolle Sache, eigentlich.
"Mit einer Geschichte, die so schmerzhaft, aber so klasse erzählt ist, dass sie es verdient, aus dem Ghetto des sozialen Netzwerks geholt zu werden."
True dat. Und gute Besserung gewünscht hab ich ihm zwar schon, aber doppelt hält besser. 🙂
Wow, super erzählt. Ich wünsche gute und rasche Genesung. Du solltest die Zeit nutzen, um ein Buch zu schreiben. 😉
..auch beim zweiten lesen immer noch Klasse.
Daniel, hier nochmals gute Besserung!
Lass dir Zeit und kurier das ordentlich.
Hat mir beim Lesen wehgetan. Arschloch! >:(
Wow, als Gastbeitrag beim Wortvogel erschienen, freundliche Genesungswünsche, schönes Feedback UND von Peroy beleidigt worden. Look, Ma, top o' the world!
Das ist wirklich eine Horrorgeschichte, auch von mir gute Besserung.
Ebenfalls gute Besserung. Erinnert mich daran, wie lang' es gebraucht hat, bis ich mit meiner (noch unerkannten) Blinddarmentzündung zum Arzt gegangen bin. Rückblickend erscheint’s eigentlich klar, dass irgendwas gaz schön verkehrt ist, wenn man zwei Tage lag vor Schmerzen kaum aus dem Bett kommt und nur noch gekrümmt und mit Trippelschritten laufen kann, aber in der Situation redet man sich das ewig lang schön: "Magen verdorben", "Verstopfung", etc.
Ich gehe mal davon aus, dass Du die Reha jetzt ganz vorbildlich genau so angehen wirst, wie Du es von Deinen Patienten erwarten würdest. 😉 Viel Erfolg dabei!
Wünsche gute Besserung! Und die Story hat mich königlich unterhalten. 😉
War noch nie bei Facebook, hatte keine Ahnung von Wortvogel, bin aber super unterhalten worden, solltest mehr schreiben und mir sagen wo ich es finden kann. Gute Besserung und liebe Grüße Monika
GUTE Besserung.
Sehr unterhaltsam geschrieben. Aber ne Stunde hat die Lektüre nicht gedauert. Überhaupt würde ich sagen, wenn die Lesegeschwindigkeit auf unter 500 wpm sinkt, wird es Zeit für nen Arztbesuch… 😉
Wahnsinnig gut geschrieben. Schwankte zwischen Mitleids- und Freudentränen. Und ich mag Geschichten mit einem richtigen Happy End 🙂
@Wortvogel: Kannst du noch nen Facebooklink zum guten Daniel reinpacken? Habe ihn nicht gefunden
@ Markus: https://www.facebook.com/daniel.spiegelberg?fref=ts