Ich hatte eben ein Facebook-Erlebnis, das ich mit euch teilen möchte. Weil es ein Lehrstück dafür ist, dass “gut meinen” und “gut machen” selten deckungsgleich sind und dass sich hinter einer vermeintlich “gerechten Sache” auch schnell kranker Fanatismus verstecken kann.
Es gibt eine Frau bei Facebook, die fordert auf ihrer eigenen Seite und auf einer eigens dafür eingerichteten Protestseite “Gerechtigkeit” für ihren Sohn. Soweit ich das verstanden habe, ist dieser nach diversen Straftaten in der Psychiatrie gelandet. Seine Mutter glaubt, das sei Folter, unwürdig, Teil einer großen Verschwörung von Politik und Pharma gegen die Menschlichkeit.
Nur um das klarzustellen: Ich glaube ihr, dass sie das glaubt. Ich glaube ihr, dass sie glaubt, es gehe um Gerechtigkeit.
Heute hat sie begeistert etwas geteilt, dass aus mir unerklärlichen Gründen auch in meiner Timeline landete:
Ich habe das dann ebenfalls geteilt – allerdings unter einem anderen Tenor, der meiner Skeptiker-Natur entspricht:
Wohlgemerkt: Ich habe nicht die Frau mit dem weggesperrten Sohn kritisiert – die hat augenscheinlich ein hartes Leben, das eine etwas schmerzhafte Sichtweise dieser Thematik nach sich zieht. Ich habe auch nicht ihr Posting kommentiert – ich suche nicht den Streit mit so jemandem. Ich amüsiere mich lediglich über diese albern polemische Petition.
Die nachfolgende Konversation geht BAM-BAM-BAM wie Lewandowski gegen Wolfsburg.
Es dauerte keine zwei Minuten, bis die erwähnte Dame unter meinem Posting aufschlägt – und gleich die übliche “Du kannst ja gar nicht mitreden”-Nummer abzieht:
Wenn man andere für die “gute Sache” mobilisieren will, sollte man ihnen vielleicht nicht gleich die Pest an den Hals wünschen.
Sie legt augenblicklich noch mal nach:
Ich antworte was in der Richtung, dass sie keine Ahnung habe, was mein Leben angeht. Das ist mir wirklich zu albern.
Und – zack:
Wow! Ich teile ihre Meinung zur Psychiatrie nicht und sie suhlt sich in Phantasien, in denen ich festgeschnallt und wahnsinnig gespritzt meinen Sarkasmus bereue.
Zur Erinnerung: Das ist eine Frau, die versucht, “Gerechtigkeit” für ihren Sohn zu erkämpfen.
Ich teile ihr knapp mit, dass Karma SO sicher nicht funktioniert und dass sie mir anhand ihrer Biographie leid tue. Das mit dem Sohn sei eine schlimme Sache, aber nicht der Maßstab für den Rest der Welt. Ich würde auch nicht das Verbot von Autos verlangen, weil mir mal eins über den Fuß gefahren ist. Sie sei offensichtlich nicht böse – nur krank.
Das drückt auf den genau richtigen Knopf:
Und schon bin ich “einer von denen”. Aus der Sorge einer Mutter um ihren Sohn ist eine paranoid-zwanghafte Verschwörungstheorie geworden. Es geht nicht um Argumente, nicht um Gerechtigkeit – es geht um “wir Guten” gegen “die Bösen”. Und da werden keine Gefangenen gemacht, da ist auch keine vernünftige Kommunikation nötig/möglich.
Während ich noch überlege, wie oder ob ich darauf antworten soll, geht es schon weiter:
Das ist dann schon komplett gestört und sinnfrei. Der Austausch hat jede argumentative Ebene verlassen. Es regiert der Wahn.
Ein paar Sekunden später blockt/löscht sie alles.
Und wisst ihr was? Die Frau tut mir immer noch leid. Nicht wegen der Geschichte mir ihrem Sohn – sondern weil sie sich so sehr in eine Sackgasse gelebt hat, dass sie keine Chance mehr hat, den Rückwärtsgang einzulegen. Die Psychiatrie, die sie bekämpft, bräuchte sie vermutlich selber. Sie sitzt nicht in einer geschlossenen Anstalt – und ist doch gefangener als ihr Sohn.
Leider sind solche Menschen keine Einzelfälle. Das individuelle Schicksal dahinter ist meistens hart und bietet allen Anlass zu Mitgefühl und man möchte auch gerne für alles Verständnis aufbringen. Aber sobald der Drang zum Generalisieren kommt – und der kommt früher oder später immer – stellen sich diese vermeintlichen Opfer selbst ins Abseits.
Jetzt gerät sie bei dir ja noch an jemanden, der gefestigt im Leben ist, um einen Blogpost zu verpassen und drüber zu stehen. Aber die gleichen Anschuldigungen/Hasstiraden an einen labileren Menschen und schon ist aus einem Opfer(-anwalt) ein Täter geworden.
Es gibt schon traurige Fälle.
🙁
Die Ausgangsfrage ist damit aber immer noch nicht beantwortet 🙂
In diesem Fall sind die Hasstiraden (und der ursächliche Post) derartig albern, dass sich auch ein labilerer Mensch kaum daran stören dürfte.
Für etwaiges Mitgefühl sehe ich in diesem Fall auch keinen Anlass. Generell gibt es sicherlich viele Fälle,bei denen Mitgefühl angebracht wäre, aber das hier fällt für mich aber nur unter “der übliche Social Media Verschwörungstheorie Schwachsinn”. Sollte man gleich komplett ignorieren, da jegliche Form von Antwort ohnehin sinnlos ist.
@Mencken:
“In diesem Fall sind die Hasstiraden (und der ursächliche Post) derartig albern, dass sich auch ein labilerer Mensch kaum daran stören dürfte.”
Sehe ich anders, aber vielleicht kenne ich einfach die falschen Leute ;-).
@ Mencken: Nein – die Frau kämpft seit Jahren um ihren Sohn. Die hat sich nicht einfach beim Kopp-Verlag eingelesen.
Ist die äußerst halbherzige Anonymisierung der Person gewollt?
@ Proesterchen: Was ist daran halbherzig?
Dass man mindestens den Nachnamen deutlich lesen kann und mit einer simplen Zwei-Wort-Suche die Publikationen zum Fall ihres Sohnes findet?
@ Proesterchen: Ich halte den Namen nicht für lesbar, zumindest war das nicht meine Intention – und wenn jemand sich die Mühe machen will, die Frau zu finden, steht ihm das frei. Nicht päpstlicher als der Papst werden.
Oha, ich glaube, mit der Person hatte ich es auch mal…
Freundschaftsanfrage.
“Kenn’ ich nicht… hmm… mal gucken (mein Gedächtnis etc)…”
Akzeptiert.
Eine Minute später: “SCHLIEß’ DICH DER FACEBOOK-GRUPPE FÜR MEINEN BEKLOPPTEN SOHN AN!!!”
Entfreundet. Geblockt.
*seufz* .. ich habe Psychiatrie-Erfahrung. Zum Teil sehr schlechte – Missbrauch von Patienten, simple Ruhigstellung um den Arbeitsablauf zu erleichtern, “psychischer Zwang” zur Medikamenteneinnahme, etc. Kommt Alles vor. Und wenn es einen direkt betrifft, kann ich auch verstehen, daß man kämpft. Aber direkt eine Verschwörungstheorie draus zu machen und von seinem eigenen Schicksal darauf zu schließen, daß das immer und überall so ist? … war die Frau wirklich schonmal in einer Psychiatrie? Von Folter kann da (naja, zumindest im Großen und Ganzen) keine Rede sein. Aber vermutlich sieht sie nur noch sehr selektiv *kopfschüttel* .. ja, ich denke auch, daß sie Hilfe braucht ..
Es ist deprimierend/traurig/……. ,wenn in der Wechselstube der Seele nur noch Angst Wut Hass und Fanatismus ausgegeben werden können.
Es gibt da keinen Königsweg,nur gute Ratschläge wie man damit umgehen kann.
Und die spare ich mir mal.
Weil ich es selbst nicht leiden kann ungefragt beraten zuwerden!
Ich habe ebenfalls Erfahrungen in der Richtung. Zwar war ich noch nie in einer klassischen Einrichtung, aber ich nehme ein Medikament um meine chronische Depression im Zaum zu halten.
Leider durfte ich schon ein paar Leute kennen lernen, die sich nicht der Krankheit entgegenstellen sondern der Behandlung. Es ist immer ein tragischer Anblick und man kann nie etwas dagegen tun.
Vielleicht kommen wir in den nächsten Jahren ja endlich von der “Klappsmühle” als Schreckensbild weg und lernen Psychische Erkrankungen als dass zu begreifen, was sie nunmal sind. Krankheiten.
@Skrymir: *unterschreib*
BTW: nach meiner Erfahrung gibt es die “klassische Einrichtung” nicht (mehr). Da gibt es inzwischen enorme Unterschiede, die ganze Bandbreite zwischen “Kuckucksnest” und Privatklinik am Rande des Naherholungsgebiet.
Fällt mir grade ein das in der Zukunft auch nicht alles totaltollst ist:
Star Trek TNG Episode 147 “Frame of Mind” dazu gibt es auch einen Song -Rikers Song von Dark Materia
Ohne mein Neuroleptikum würde ich noch immer immer wieder in meine “guten, alten” “Schwarzen Löcher” fallen, ist nicht schön. Mit meinem Medikament geht es mir deutlich besser, nur noch “Schattige Mulden”, die ich durchschreiten muss, von Zeit zu Zeit.
Nachdem ich mal plötzlicher und tiefer gefallen war als je zuvor, hatte ich mir, als ich halbwegs raus war, endlich Hilfe gesucht, ich bekomme jetzt das Neuroleptikum. An mein tiefstes Loch kann ich mich wenigstens so gut wie gar nicht mehr erinnern, ich weiß noch, dass der Schmerz extrem intensiv war, an ein paar Gedanken kann ich mich auch noch erinnern, der Rest ist weg, ein Glück.
@Mic #1: Punktlandung!
@Mic
Recht hast du. Was ich eigentlich sagen wollte war, dass ich noch nie irgendwo Stationär in Behandlung war.
Besonders bei Facebook kommt es immer wieder zu solchen Dialogen, weil viele Menschen augenscheinlich nicht differenzieren (können/wollen). Wenn man dann argumentativ und rhetorisch stark ist wie der Wortvogel, stoßen einige an ihre Grenzen und schlagen (verbal) wild um sich.
Herr Dewi, wie können Sie auch nur immer noch Intelligenz, Reflexion etc. von anderen Individuen verlangen? Haben sie in all den Jahren nichts gelernt? 😉
@ Manu: “Haben sie in all den Jahren nichts gelernt?” – doch. Dass es immer noch Spaß macht, meine rhetorischen Fähigkeiten auszuspielen. Aber das hört auf, wenn die Leute Opfer sind, weil sie nicht verstehen KÖNNEN statt nicht verstehen WOLLEN.
Vielleicht sollte man auch nicht systematisch die Augen vor den manchmal erschreckend offenkundigen Wahrheiten verschließen:
Halbgescheite Menschen bekommen halbgescheite Kinder.
Das mit den halbgescheiten sollte man ganz schnell vergessen!
Weil es nicht annähert die Not einer Mutter beschreibt,die um ihre Seele zuschützen fanatisch nach allen Halbgarem tritt-“Entweder seid ihr für mich oder gegen mich?!”
Sehenswert “We need to talk about Kevin”
Die Dame kenne ich. Hab sie zwar noch nicht geblockt, werde es aber wohl demnächst tun. Die anderen Spinner auf ihrer Freundesliste sind aber auch herzallerliebst.
@Wortvogel: Ist mir schon klar, dass hier ein trauriger Hintergrund vorliegt, ändert aber nichts daran, dass sie groben Unfug verbreitet und sich (was den öffentlichen Auftritt angeht) auch einfach beim Kopp Verlag hätte einlesen können, ohne dass es einen Unterschied machen würde.