05
Jan 2015

Sichtkontakt mit meinem anderen Leben

Themen: Neues |

Vor fünf Jahren habe ich mal drüber geschrieben, dass ich im Herbst 1990 mit Freunden Urlaub in Irland gemacht hatte. In Durrus im County Cork, um genau zu sein. Ich weiß nicht, warum ich nicht damals schon auf die Idee gekommen bin, diese Reise auf Google Maps nachzuvollziehen. Heute habe ich es getan – und es hat seltsam widersprüchliche Emotionen ausgelöst, als wäre ich beinahe einem Torsten von der “road less travelled” begegnet. Als wäre ich nicht (zumindest mit dem Finger auf der Karte) nach Irland zurückgekehrt, sondern in ein anderes Leben.

Dazu muss ich ein wenig ausführen.

Herbst 1990. Ich nutze die Zeit zwischen dem Ende meines Zivildienstes und dem Beginn meiner Arbeit beim GONG für einen letzten Urlaub als gänzlich unbeschäftigter Früh-20er. Meine Kumpel Markus und Christian kommen mit, Frank verspricht, mit seiner Freundin Angelika auch noch für ein paar Tage dazu zu stoßen. Tickets gibt es billig im Reisebüro und wir mieten uns ein kleines, einfaches Ferienhaus mit ausreichend Betten und Harry vor der Gartenmauer- ein Hirtenhund des Nachbarn, der Urlauber mit großer Begeisterung empfängt und immer zuverlässig mit zum Pub trottet, wo er dann brav vor der Tür wartet, bis man rausgetorkelt kommt.

Es sind schöne vier Wochen, in denen ich über Irland vor allem lerne: Alle Klischees basieren auf Wahrheiten. Die Iren sind grob, aber freundlich, tragen kratzige Klamotten, haben gigantische Familien und immer was zu feiern. Tagsüber ist die Arbeit hart, abends der Alkohol. Außerdem ist das Wetter scheiße, gerne auch im Sommer. Von den vier Wochen regnet es dreieinhalb. Nicht schlimm, aber immer so nieselig, dass man eigentlich kaum aus dem Haus gehen mag. Trotzdem haben wir Spaß, spielen Scrabble, bauen Dosentürme, drehen mit der billigen Videokamera krude Stop Motion King Kong-Filme und “hängen ab”, wie man damals so sagt.

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Durrus, unser Ferienort, besteht gefühlt aus 20 Privathäusern, zwei kleinen Läden und sieben Pubs – die jeden Abend solide voll sind. Es ist uns schleierhaft, woher die Iren das Geld, die Zeit und die Stamina hernehmen.

Ich kann nicht sagen, warum “Paddy’s Pub” an den meisten Regenabenden unsere zweite Heimstatt wird. Es ist ein verwittertes kleines Häuschen, eine schmierige kleine Kneipe mit wackeligen Tischen und gerade mal verzehrbaren Fisch & Chips. Auf einem winzigen Fernseher über dem Tresen läuft verschneit irisches Regionalfernsehen mit ausgedrehtem Ton, manchmal auch ein Spielfilm, den man nebenan im Supermarkt auf Video ausleihen kann (aus einem Bestand von ca. 20 Kassetten). Das einzig Bemerkenswerte ist der erstaunliche Vorrat an Whiskysorten, von billigstem Fusel bis zur Edelmarke. Der Pub ist immer knapp halbvoll und wie üblich ist um 11.00 Uhr “last call” – in Irland nimmt man es mit der Sperrstunde recht genau.

Vermutlich ist es Paddy selbst, der uns immer wieder anzieht. Weit über 70, hat er nach eigener Aussage im Zweiten Weltkrieg Angriffe auf die Deutschen geflogen. Kaum hat er gespannt, wo wir herkommen, zieht er das ganze Register von Anti-Nazi-Witzen, an die er sich noch erinnern kann. Und das sind viele. Ich erinnere mich vage an den mit dem englischen Kriegsgefangenen und dem Holzbein, der immer lautlos durch das Gefangenenlager der Deutschen schlich und den die Nazis schließlich anbrüllten: “We have ways to make you tock!”. So auf dem Niveau läuft das. Wir lachen viel, aber meistens nur höflich.

Nach ungefähr einer Woche hat Paddy uns ins Herz geschlossen und wir bekommen die ganze Bandbreite irischer Gastfreundschaft zu spüren: Sperrstunde heißt hier nämlich nicht Sperrstunde, sondern lediglich: Rolläden runterlassen, Tür absperren und privat weitersaufen. So manchen Abend lehrt uns Paddy anhand Dutzender Whiskysorten die Feinheiten des Alkoholismus, holt schließlich ein uraltes Akkordeon raus und singt schräge Lieder von leichten Mädchen und harten Männern. Wir verstehen kaum was davon, aber das ist dem Genuss nicht abträglich. Whisky ist ein exzellenter Freundschaftsbeschleuniger. Unter sternklarem Himmel wanken wir dann sternhagelvoll zum Ferienhaus zurück.

Ab der zweiten Woche beginnt Paddy auch, uns aus seinem Leben zu erzählen. Er ist nicht glücklich. Eine eigene Familie hat er nicht und die Frau, die er liebt, kann für ihn ihren Mann nicht verlassen. Sein Pub ist nicht nur sein Beruf, er ist sein Mittelpunkt und sein ganzes kleines Leben. Zumal die Beine nicht mehr so mitspielen und Paddy viele Abende nur vom Hocker hinter dem Tresen aus einschenken kann.

Es muss in der dritten Woche sein oder vielleicht auch schon kurz vor unserer Abreise, als mir Paddy – unter solidem Alkoholeinfluss – einen Vorschlag macht. Ich versuche mal, seinen Sprachduktus nach bestem Wissen und Gewissen zu übersetzen:

“Weißt du, Torsten, ich bin alt. Und nicht mehr gesund. Die Beine und so, habe ich ja erzählt. Kommen auch immer mehr Deutsche hier durch, manche mit Rucksack, manche mit Auto. So halt. Immer mehr. Bin ich zu alt für. Ich spreche auch kein deutsch, außer Sachen wie “Obersturmbannführer” und “Luftwaffe”. Über dem Pub ist aber eine kleine Bude – wenn du hier bleibst und mir hinter der Theke hilfst, kannst du sie haben.”

Das ist ein klares Angebot. Und ich bin völlig überfordert.

In Irland bleiben? In einem winzigen Apartment in einem winzigen Pub in einem winzigen Dorf, wo es viel regnet?

“Ist ja nicht so, dass das nur ein Job ist. Ich kann das nicht mehr lange machen. Wenn es dir gefällt, überschreibe ich dir das Haus und den Laden, wenn bei mir nichts mehr geht. Dann gehört das “Paddy’s” dir.”

Andererseits: Barkeeper sein. Ansprechpartner für deutsche Touristen. So langsam den irischen Charakter aufsaugen. Irgendein rothaariges Mädel heiraten. An der Küste die Nase in den Wind halten.

Ich will etwas antworten, aber Paddy dreht sich schon wieder um und packt sein Akkordeon. Er will mir Zeit geben, darüber nachzudenken.

Die Tatsache, dass ich diese Zeilen aus Speyer schreibe, erspart euch drei Absätze – ich habe das Angebot nicht angenommen. Ich war durchaus versucht, denn ich stand gerade an der Schwelle zu einem schwierigen und unübersichtlichen Berufsleben. Umziehen wollte ich sowieso. Warum also statt der Großstadtkarriere nicht das einfache Leben auf dem Land wählen, warum nicht morgens die Bierfässer ausladen und abends die Kasse machen? So eine Mischung aus “Cheers” und “Der Doktor und das liebe Vieh” leben?

Aber ich war 21. Ich war am Anfang, ich wollte nicht schon wieder am Ende sein. Der Weg ist das Ziel – und Durrus war nur ein Ziel. Es sollten Jahre kommen, 1999 oder 2007, da hätte ich vielleicht zugesagt, da wäre der Pub ein willkommener Richtungswechsel gewesen. Aber 1990, mit 21 und einem Job-Angebot für München in der Tasche, konnte mich Durrus nicht halten.

Paddy hat nie nachgefragt. Er war klug genug zu wissen, dass mein Schweigen zu dem Thema eine Ablehnung war. Er hat es mir nicht verübelt – vielleicht hatte er es am nächsten Tag auch schon vergessen. Wir reisten dann ja auch bald ab.

Über die Jahre habe ich immer mal wieder daran gedacht, meistens in einsamen oder melancholischen Stunden. Google fördert so manche Kuriosität zu Tage, zum Beispiel über lokale Bands, die in den 70ern jeden Sonntag im “Paddy’s” auftraten. Eine der ersten Journalistinnen des “Cork Examiner” hat in einem Buch eine Anekdote über Paddy verewigt.

25 Jahre vorspulen. Ich brauche eine Weile, bis mir der Name von Durrus wieder einfällt. Dann suche ich den Ort in Google Maps. Zu meiner Freude ist das internet-affine Land von Streetview abgedeckt, ich kann an meinem Bildschirm durch die Straßen spazieren, die ich nicht mehr wiedererkenne. Es ist zu lange her. Ich weiß nur noch, dass wir damals immer von der Küste die Dorfstraße hinauf gegangen sind. Mit dem Touchpad verfolge ich unsere Schritte, bis…:

durrus

“Paddy Barry’s Lounge Bar”.

Es versetzt mir einen Stich.

In einem Bericht zur Dorfplanung ist zu lesen:

“The vacant Paddy Barry’s has an even more deleterious effect as it is so prominent; unfortunately, sites of this kind immediately catch the eye and give a poor impression of the village in general.”

Der Pub ist zu, verfallen, Schilder einer Immobilienfirma hängen dran, dass hier schon Genehmigungen für einen Neubau erteilt sind. 3 Wohnungen und 2 Geschäfte an dem Ort, an dem Paddy des nachts das Akkordeon rausgeholt und deutschenfeindliche Witze erzählt hat.

Ich starre lange auf das Bild, passe das Gebäude im Kopf in meine Erinnerungen an, Da neben der Tür hat Hund Harry immer auf uns gewartet, da hinten neben dem Fenster haben wir gesessen. Links war der Tresen und die Klappe zum Keller.

Während ich auf das Bild schaue, scheint es sich zu verändern. Ich projiziere frischen Putz und Farbe auf die Außenwände, ein neues Schild über die Tür, eine Speisekarte daneben. Ich sehe mich, wie ich mit meinem halbwüchsigen Sohn ein Fass aus dem silbernen Kleinlaster lade. Meine beträchtliche Plauze wird von einer Tweed-Weste gehalten, dafür sind meine Arme deutlich kräftiger. Ich nicke einem Nachbarn zu, der vorbei geht. Er grinst – look at the German.

Ich muss den Kopf schütteln, um das Bild wieder loszuwerden. Was für ein sentimentaler Unsinn. Hätte ich das “Paddy’s” übernommen, wäre es mit Sicherheit heute keine beliebte “German bar”. Wäre die Konjunktur in Durrus so kräftig, hätte ja auch jemand anders den Laden übernehmen können. Paddy hat das Angebot sicher nicht nur mir gemacht. Es hat garantiert gute Gründe, warum das “Paddy’s” zusammen mit seinem Besitzer beerdigt wurde.

In einer Fotocommunity finde ich eine weitere Aufnahme – tatsächlich kann man mit dem entsprechenden Google-Suchbegriff diverse “künstlerische” Aufnahmen der Ruine sehen:

Irlandurlaub 2007

Die Bildunterschrift könnte von mir sein:

In Paddy Barry’s Pub trank ich manches Guiness, leider wie man sieht wohl nicht genug …

Paddy war auch Makler, Touristenführer, B&B-Wirt und Alleinunterhalter. Und brachte mir den irischen Humor näher:

Auf die Bestellung eines Glases Whiskey, die Frage “what would you like to have in it… Ice… Water…” und die Antwort “nothing please” bekam ich ein leeres Glas…

Nach 25 Jahren sollte ich loslassen können. Es ist gut, wie es ist.

Und doch… wie das wohl geworden wäre, wenn ich an diesem Abend im Herbst 1990 ja statt nein gesagt hätte? Fast wünsche ich mir, ich könnte noch mal hinreisen und den Torsten treffen, der nicht gekniffen hat. Mit ihm über das Leben plaudern, erfüllte wie geplatzte Träume, Narben vergleichen, Witze austauschen. Er kennt sicher viel mehr antideutsche Witze als ich.

Weil das nicht geht, beschließe ich, das Bild von Streetview anders zu sehen: Der Laden ist nicht tot. Paddy hat nur ein letztes Mal die Rolläden runter gelassen und die Tür abgeschlossen. Drinnen, unbeobachtet und unbeeindruckt vom Lauf der Zeit, saufen sie weiter. Sie singen ihre Lieder zum Akkordeon, die Luft geschwängert von Zigaretten und dem Fett der Fritteuse, auf dem Fernseher endgültig nur noch weißes Rauschen. Harry haben sie wegen des Mistwetters ausnahmsweise reingeholt. Und nun fällt Paddy noch ein uralter Witz ein. Stürzt ein deutscher Bomber in London auf dem Trafalgar Square ab…

Ich glaube, ich hole mir jetzt noch einen Whisky raus, den mir ein irischer Freund vor Jahren geschenkt hat, und leere ihn. Für Paddy – und für das bisschen Torsten, das damals doch in Durrus geblieben ist.

“Sláinte chugat!”



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11 Kommentare
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Ferdinand Fröhlich
Ferdinand Fröhlich
5. Januar, 2015 14:17

Ist es eigentlich eine Gabe so schreiben zu können, dass der Leser meint altes Holz und Zigarrenqualm riechen zu können oder ist das gelernt?

Steffen
Steffen
5. Januar, 2015 14:25

Schön geschrieben, das ruft bei mir auch Erinnerungen hoch 🙂

Snyder
Snyder
5. Januar, 2015 18:07

Ich lese deine Erinnerungen immer sehr gerne, nur hätt ich mir gewünscht dass dieser doch eher melancholisch-kontemplative Text auf einen derben Deutschenwitz enden täte. Aus reiner Neugier.

Thies
Thies
6. Januar, 2015 02:37

Wahrscheinlich haben viele Menschen eine “Was wäre wenn”-Geschichte, aber nicht jede wird so klar und doch nachfühlbar erzählt wie deine. Leider habe ich gerade keinen irischen Whiskey zur Hand und es ist auch zu spät um “The Pogues” aufzulegen, aber ich erhebe trotzdem mein Glas in Gedenken an all die Träume die nicht sein sollten.

Wortvogel
Wortvogel
6. Januar, 2015 10:08

@ Ferdinand Fröhlich: Zumindest bei mir war es Gabe – die Jahre in der Branche haben das nur noch geschliffen.

Dietmar
Dietmar
6. Januar, 2015 11:44

Schöner Artikel mal wieder! Hat mich erfolgreich von der Arbeit abgehalten …

comicfreak
comicfreak
8. Januar, 2015 10:10

..das macht aus dem Pub ein irisches Overlook-Hotel.. 😉

aZrael
aZrael
9. Januar, 2015 14:32

Ich kann mich meinen Vorrednern nur anschließen – dein Stil ist einfach jedes Mal wieder eine echte Freude, egal, über welches Thema du schreibst. Aber gerade deine Erinnerungen so plastisch vor das Auge beim lesen treten zu lassen, das hat mich gerade mal wieder richtig gepackt. Danke dafür!

Wortvogel
Wortvogel
9. Januar, 2015 14:45

@ aZrael: Ganz ohne Flachs oder Ironie – es ist mir ein Vergnügen.

Frank B.
Frank B.
19. Januar, 2015 06:02

Hallo Wortvogel …

BEST STORY EVER !!!

Christian
3. Februar, 2015 14:56

Besser als Frank kann ich es nicht fassen – danke! Sehr, sehr schön.