31
Okt 2014

Lektüre: Zum Abend, zu Halloween

Themen: Neues |

Ich hatte darüber nachgedacht, eine eigene Kurzgeschichte zum Halloween zu schreiben – leider fehlt mir gerade die Zeit. Also überlasse ich das Guy de Maupassant, dessen (leicht gekürzte) Variante einer Gruselgeschichte ich hier nun präsentieren möchte:

Gestern bin ich nach Paris zurückgekehrt. Als ich mein Zimmer wiedersah, unser Zimmer, unser Bett, unsere Möbel, dieses ganze Haus, an dem alles noch hing, was von einem Menschen nach seinem Tode bleibt, packte mich noch einmal die Verzweiflung so gewaltig, daß ich das Fenster öffnen und mich auf die Straße hinabstürzen wollte. Ich konnte es, von all diesen Dingen umgeben, von diesen Mauern, die sie einst umschlossen, und beschirmt, nicht mehr aushalten, in diesen Wänden, die in all ihren kleinen unmerklichen Rissen tausend Atome von ihr bewahren mußten, von ihrem Körper, ihrem Hauch, und ich nahm meinen Hut, um zu entfliehen. Plötzlich, als ich an die Thür kam, mußte ich an dem großen Spiegel vorüber, den sie dort hatte aufstellen lassen, um sich täglich, wenn sie ausging, von Fuß bis zu Kopf zu betrachten, zu sehen ob ihre Toilette ihr gut stand, in Ordnung war, hübsch aussah, von den Schuhen bis zum Hut.

Und starr blieb ich vor dem Spiegel stehen, der so oft ihr Bild zurückgeworfen, so oft, so oft, daß er doch auch ihr Bild hätte in sich festhalten müssen.

Zitternd stand ich da, die Augen auf das Glas gerichtet, das glatte, tiefe, leere Glas, das sie aber völlig festgehalten hatte, und besessen, ebenso wie ich, genau so wie mein leidenschaftliches Auge. Mir war als liebte ich diesen Spiegel – ich berührte ihn – er war kalt. Ach, die Erinnerung! die Erinnerung! Schmerzensspiegel, brennender Spiegel, lebendige furchtbare Scheibe, die Du alle diese Leiden heraufbeschwörst! Glücklich die Menschen, deren Herz gleich einem Spiegel ist, in dem die Erscheinungen auftauchen und wieder verblassen, die alles vergessen, was er wiebergab, alles was vor ihm geschehen ist, alles was sich in seiner Liebe, in seiner Zuneigung betrachtet, gesonnt, gespiegelt hat. O, wie ich leide!

Ich ging aus. Und ohne es zu wollen, ganz von selbst, fast ohne es zu wissen, ging ich zum Kirchhof. Ich fand ihr einsames Grab, worauf ein Marmorkreuz stand mit den wenigen Worten: »Sie liebte, ward geliebt und starb.«

Da drunten lag sie nun verwest! Entsetzensvoller Gedanke! Ich schluchzte, die Stirn am Boden.

Lange, lange blieb ich liegen. Dann merkte ich, daß es Abend ward. Da kam ein verrückter, toller Gedanke über mich, der Wunsch eines an den Rand des Wahnsinns gebrachten Liebenden. Ich wollte die Nacht bei ihr bleiben, die letzte Nacht auf ihrem Grabe weinen. Aber man würde mich sehen und mich fortjagen. Wie sollte ich es anfangen? Ich gebrauchte eine List. Ich erhob mich und begann durch die Totenstadt zu irren. Ich ging und ging. Wie klein sie ist, diese Stadt, neben der anderen, der, in der man lebt. Und doch wie viel mehr Tote giebt es als Lebende! Wir brauchen große Häuser, Straßen, so viel Platz für die vier Generationen, die zu gleicher Zeit das Licht der Sonne genießen, von den Quellen, vom Wein der Weinberge trinken, das Brot der Ebenen essen.

Und für all die Generationen von Toten, für diese ganze Stufenleiter der Menschheit, die bis zu uns herabsteigt, ist fast nichts nötig, als ein Feld, – fast nichts. Die Erde nimmt sie auf, die Vergessenheit löscht sie aus. Lebet wohl!

Am Ende des Kirchhofs, wo noch begraben wurde, erblickte ich plötzlich den verlassenen Kirchhof, den, wo die längst, längst Gestorbenen ihre Verbindung mit der Mutter Erde eingehen, wo sogar die Kreuze faulen, und wo man vielleicht schon morgen wieder die Letztangekommenen betten wird. Er ist mit wilden Rosen überrankt, mit kräftigen, dunklen Cypressen bestanden, – ein trauriger, wundervoller Garten, vom Leibe der Menschen genährt.

Ich war allein, ganz allein. Ich verbarg mich unter einem grünen Baum, versteckte mich gänzlich, zwischen den dunklen dichten Zweigen und, an den Stamm geschmiegt, wartete ich wie ein Schiffbrüchiger auf den Trümmern des Schiffes.

Als es Nacht war, dunkle Nacht, verließ ich mein Versteck und begann leise, mit langsamen, schleichenden Schritten auf dieser Erde dahin zu gehen, darunter Totes an Totem lag.

Ich irrte lange, lange, lange. Ich fand sie nicht wieder. Mit ausgestreckten Armen, die Augen aufgerissen, tastete ich mich mit den Händen an den Gräbern hin, stieß mit den Füßen, den Knieen, der Brust, sogar dem Kopf an, irrte auf und ab und fand sie nicht. Ich tastete und fühlte mich fort wie ein Blinder, der seinen Weg sucht; betastete Steine, Kreuze, Eisengitter, Kränze aus Glas-Perlen, Kränze aus verwelkten Blumen. Ich ließ den Finger über die Inschriften gleiten und las die Namen. Welche Nacht! welche Nacht! Und ich fand sie nicht.

Kein Mond! Welche Nacht! Ich hatte Angst, eine entsetzliche Angst in diesen schmalen Wegen, zwischen diesen beiden Gräberreihen. Gräber! Gräber! Gräber! Überall, überall Gräber! Rechts, links, vor mir, um mich herum, überall Gräber! Ich setzte mich auf eines, denn ich konnte nicht mehr gehen, mir brachen die Kniee. Ich hörte wie das Herz mir schlug, und ich hörte noch andere Dinge. Was? Ein unnennbares, dumpfes Geräusch. War es in meinen verstörten Sinnen? Lag es in der undurchdringlichen Nacht? Kam es aus der geheimnisvollen Erde, kam es aus der Erde, die besät war mit menschlichen Gebeinen? Ich blickte um mich.

Wie lange ich dort geblieben bin, weiß ich nicht. Ich war vom Schrecken wie gelähmt, trunken vor Entsetzen. Ich hätte aufbrüllen mögen, dem Tode nahe.

Plötzlich schien es mir, als ob die Marmorplatte, auf der ich saß, sich bewegte. Ja, sie bewegte sich, als hätte man sie emporgehoben. Mit einem Satz sprang ich auf das benachbarte Grab und sah, sah wie der Stein, auf dem ich eben gesessen, sich emporrichtete und der Tote erschien, ein nacktes Skelett, und den Marmor aufhob mit dem gekrümmten Rücken. Ich sah, sah es ganz deutlich, obgleich die Nacht dunkel war. Und auf dem Kreuze konnte ich lesen:

»Hier ruht Jakob Olivant, gestorben im einundfünfzigsten Jahr seines Lebens. Er liebte die Seinen, war brav und gut, und starb im Frieden Gottes.«

Nun begann auch der Tote zu lesen, was auf dem Grabe stand. Dann nahm er einen Stein vom Wege, einen kleinen, spitzen Stein, und begann emsig an der Schrift zu kratzen. Langsam löschte er sie fort, indem er mit seinen leeren Augenhöhlen die Stelle betrachtete, wo die Buchstaben noch eben gestanden. Und mit der Spitze des Knochens, der sein Zeigefinger gewesen, schrieb er mit flammenden Lettern, wie Zeilen, die man mit einem Streichholz an die Wand malt:

»Hier ruht Jakob Olivant, gestorben im einundfünfzigsten Jahr seines Lebens. Er trieb durch seine Härte, seinen Vater, den er zu beerben wünschte, in den Tod; er quälte seine Frau, peinigte seine Kinder, betrog seine Nachbarn, stahl wo er konnte und starb eines elenden Todes.«

Als der Tote fertig war mit schreiben, betrachtete er unbeweglich sein Werk. Und wie ich mich umwendete, gewahrte ich, daß alle Gräber offen standen, daß alle Leichen herausgestiegen waren, alle die Lügen weggelöscht hatten, die auf den Leichensteinen von den Hinterbliebenen eingegraben worden, um statt dessen die Wahrheit hinzusetzen.

Und ich sah, daß alle, alle Henker ihrer Mitmenschen gewesen, voller Haß, Unehrlichkeit, Heuchler, Lügner, Betrüger, Verleumder, Neider, daß sie gestohlen, betrogen hatten, alles Schmachvolle und Böse vollführt, sie alle diese guten Väter, diese treuen Gattinnen, diese liebevollen Söhne, diese keuschen, jungen Mädchen, diese ehrlichen Kaufleute, – alle diese Männer und Frauen, denen man nachsagte, daß sie tadellos gewesen.

Alle schrieben sie zu gleicher Zeit auf die Schwelle ihrer Erdenwohnung die grausame, furchtbare, heilige Wahrheit, die alle auf der Erde nicht kennen oder thun, als ob sie nichts davon wüßten.

Und ich dachte, daß auch sie, sie, jetzt auf ihrem Grabstein schreibe. Und nun lief ich ohne Angst mitten zwischen den halbgeöffneten Gräbern, zwischen all den Leichen, den Skeletten hin zu ihr, sicher, sie zu finden.

Ich erkannte sie von weitem, ihr Gesicht war in das Schweißtuch gehüllt und auf dem Marmorkreuz, auf dem ich vorhin noch gelesen: »Sie liebte, ward geliebt und starb!« gewahrte ich die Worte:

»Eines Tages ging sie aus, um ihren Geliebten zu hintergehen, erkältete sich bei Regenwetter und starb.«

Bei Tagesgrauen soll man mich ohnmächtig neben einem Grabe gefunden haben…

IN ENGLISCH

Yesterday I returned to Paris, and when I saw my room again — our room, our bed, our furniture, everything that remains of the life of a human being after death, I was seized by such a violent attack of fresh grief, that I was very near opening the window and throwing myself out into the street. As I could not remain any longer among these things, between these walls which had enclosed and sheltered her, and which retained a thousand atoms of her, of her skin and of her breath in their imperceptible crevices, I took up my hat to make my escape, and just as I reached the door, I passed the large glass in the hall, which she had put there so that she might be able to look at herself every day from head to foot as she went out, to see if her toilet looked well, and was correct and pretty, from her little boots to her bonnet.

And I stopped short in front of that looking-glass in which she had so often been reflected. So often, so often, that it also must have retained her reflection. I was standing there, trembling, with my eyes fixed on the glass — on that flat, profound, empty glass — which had contained her entirely, and had possessed her as much as I had, as my passionate looks had. I felt as if I loved that glass. I touched it, it was cold. Oh! the recollection! sorrowful mirror, burning mirror, horrible mirror, which makes us suffer such torments! Happy are the men whose hearts forget everything that it has contained, everything that has passed before it, everything that has looked at itself in it, that has been reflected in its affection, in its love! How I suffer!

I went on without knowing it, without wishing it; I went towards the cemetery. I found her simple grave, a white marble cross, with these few words:

“‘She loved, was loved, and died.

She is there, below, decayed! How horrible! I sobbed with my forehead on the ground, and I stopped there for a long time, a long time. Then I saw that it was getting dark, and a strange, a mad wish, the wish of a despairing lover seized me. I wished to pass the night, the last night in weeping on her grave. But I should be seen and driven out. How was I to manage? I was cunning, and got up, and began to roam about in that city of the dead. I walked and walked. How small this city is, in comparison with the other, the city in which we live: And yet, how much more numerous the dead are than the living. We want high houses, wide streets, and much room for the four generations who see the daylight at the same time, drink water from the spring, and wine from the vines, and eat the bread from the plains.

And for all the generations of the dead, for all that ladder of humanity that has descended down to us, there is scarcely anything afield, scarcely anything! The earth takes them back, oblivion effaces them. Adieu!

At the end of the abandoned cemetery, I suddenly perceived that the one where those who have been dead a long time finish mingling with the soil, where the crosses themselves decay, where the last comers will be put tomorrow. It is full of untended roses, of strong and dark cypress trees, a sad and beautiful garden, nourished on human flesh.

I was alone, perfectly alone, and so I crouched in a green tree, and hid myself there completely among the thick and somber branches, and I waited, clinging to the stem, like a shipwrecked man does to a plank.

When it was quite dark, I left my refuge and began to walk softly, slowly, inaudibly, through that ground full of dead people, and I wandered about for a long time, but could not find her again. I went on with extended arms, knocking against the tombs with my hands, my feet, my knees, my chest, even with my head, without being able to find her. I touched and felt about like a blind man groping his way, I felt the stones, the crosses, the iron railings, the metal wreaths, and the wreaths of faded flowers! I read the names with my fingers, by passing them over the letters. What a night! What a night! I could not find her again!

There was no moon. What a night! I am frightened, horribly frightened in these narrow paths, between two rows of graves. Graves! graves! graves! nothing but graves! On my right, on my left, in front of me, around me, everywhere there were graves! I sat down on one of them, for I could not walk any longer, my knees were so weak. I could hear my heart beat! And I could hear something else as well. What? A confused, nameless noise. Was the noise in my head in the impenetrable night, or beneath the mysterious earth, the earth sown with human corpses? I looked all around me, but I cannot say how long I remained there; I was paralyzed with terror, drunk with fright, ready to shout out, ready to die.

Suddenly, it seemed to me as if the slab of marble on which I was sitting, was moving. Certainly, it was moving, as if it were being raised. With a bound, I sprang on to the neighboring tomb, and I saw, yes, I distinctly saw the stone which I had just quitted, rise upright, and the dead person appeared, a naked skeleton, which was pushing the stone back with its bent back. I saw it quite clearly, although the night was so dark. On the cross I could read:

Here lies Jacques Olivant, who died at the age of fifty-one. He loved his family, was kind and honorable, and died in the grace of the Lord.

The dead man also read what was inscribed on his tombstone; then he picked up a stone off the path, a little, pointed stone, and began to scrape the letters carefully. He slowly effaced them altogether, and with the hollows of his eyes he looked at the places where they had been engraved, and, with the tip of the bone, that had been his forefinger, he wrote in luminous letters, like those lines which one traces on walls with the tip of a lucifer match:

Here reposes Jacques Olivant, who died at the age of fifty-one. He hastened his father’s death by his unkindness, as he wished to inherit his fortune, he tortured his wife, tormented his children, deceived his neighbors, robbed everyone he could, and died wretched.

When he had finished writing, the dead man stood motionless, looking at his work, and on turning round I saw that all the graves were open, that all the dead bodies had emerged from them, and that all had effaced the lies inscribed on the gravestones by their relations, and had substituted the truth instead. And I saw that all had been tormentors of their neighbors — malicious, dishonest, hypocrites, liars, rogues, calumniators, envious; that they had stolen, deceived, performed every disgraceful, every abominable action, these good fathers, these faithful wives, these devoted sons, these chaste daughters, these honest tradesmen, these men and women who were called irreproachable, and they were called irreproachable, and they were all writing at the same time, on the threshold of their eternal abode, the truth, the terrible and the holy truth which everybody is ignorant of, or pretends to be ignorant of, while the others are alive.

I thought that she also must have written something on her tombstone, and now, running without any fear among the half-open coffins, among the corpses and skeletons, I went towards her, sure that I should find her immediately. I recognized her at once, without seeing her face, which was covered by the winding-sheet, and on the marble cross, where shortly before I had read: ‘She loved, was loved, and died,’ I now saw: ‘Having gone out one day, in order to deceive her lover, she caught cold in the rain and died.’”

It appears that they found me at daybreak, lying on the grave unconscious.



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2 Kommentare
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Manuela
Manuela
31. Oktober, 2014 19:45

Hi Torsten, darf ich Deine – gekürzte – Fassung auf meiner eigenen FB Seite posten, nur für Freunde ?

Das ist echt genial…..

LG
Manu

Wortvogel
Wortvogel
1. November, 2014 08:41

@ Manuela: Natürlich – die Geschichte ist gemeinfrei. Ich habe lediglich den Prolog rausgenommen, weil der auch in der Variante, die ich kürzlich in England in einem Buch gelesen habe, schon fehlte. Der ist letztlich redundant.