Good night, old friend: “Leonard Maltin’s Movie Guide” (1969-2015)
Themen: Film, TV & Presse, Neues |Viele von euch werden gar nicht mehr wissen, wie es war, ein Filmfan zu sein, bevor es das Internet gab. Als Wikipedia und IMDB noch nicht die jahrelange Schmökerei in schlecht recherchierten Sekundärwerken ersetzten, die man zerfleddert neben dem Bett liegen hatte. Als Filmkonsum noch nicht “alles und sofort” hieß, sondern “schau mal in die TV-Zeitschrift”.
Wollte man damals eine brauchbar kuratierte Filmsammlung haben und die kostbare Lebenszeit nicht an cineastischen Abfall verschwenden (oder genau das), dann musste man sich auf kompetente Erklärbären auf gedrucktem Papier verlassen. Schon in meinem “Dark Palace”-Fanzine der späten 80er empfahl ich für Genre-Filme den “Psychotronic Video Guide” und für den gesamten Rest “Leonard Maltin’s TV Movies and Video Guide“. Da konnte man übersichtlich nachlesen, was in der Glotze verpassenswert war.
Maltins Buch nannte ich liebevoll “das Brikett”, denn trotz des Taschenbuchformats war es über 1000 Seiten dick und so winzig bedruckt, dass ich zur Lektüre meine Brille brauchte. Von Maltin habe ich die wunderbare Einschätzung “Die Hälfte der Besetzung sieht besoffen aus – und die andere Hälfte sieht aus, als wäre sie es auch gerne”. Maltin kommentierte das Musical “Isn’t it romantic?” mit einem pragmatischen “no”. Maltin besprach nicht nur Blockbuster und Klassiker – als eines der wenigen Sekundärwerke waren ihm auch TV-Filme nicht zu mickerig für fünf oder sechs Zeilen.
Als ich in den frühen 90ern beim GONG arbeitete, war Maltin mein ebenso unverzichtbarer Begleiter wie später bei ProSieben. Es war jedes Jahr ein Kirschblütenfest, wenn die neue Ausgabe rein kam, weil ich mich dann erstmal ein paar Tage lang in die neusten Reviews einlesen konnte. Erfreulicherweise war das Buch so günstig, dass man sich jedes Jahr ein Update leisten konnte. Der Maltin war mein iPhone.
Leonard Maltin selbst wurde durch sein Buch zum Kult – u.a. hatte er Auftritte in “Gremlins 2” und “Mystery Science Theatre 3000”.
Das Buch hat sich verändert über die Jahre. Es ärgerte mich, dass irgendwann obskure Filme rausfielen, um Platz für “relevantere” Streifen zu machen. Mitte der 90er waren die Kurzkritiken für eine Weile in Microsofts “Cinemania” eingepflegt. Um die Jahrtausendwende habe ich eine Version gekauft, der die Datenbank auf einer Diskette beilag. Als es gar nicht mehr ging, wurde Maltins Standardwerk in zwei Bände aufgeteilt – fairerweise aber nicht alphabetisch, sondern historisch: “Classics” und “The Modern Era”. TV-Filme wurden immer mehr rausgenommen. 2009 erschiene eine App zum Buch, die neulich aber erstmal eingestellt wurde.
Am 2. September erscheint in den USA die neuste Edition des mittlerweile verkürzt benamsten “Maltin’s Movie Guide” (der übrigens von einer Horde Zuträgern geschrieben wird und nicht nur von Maltin selbst). Fast 1700 Seiten für immer noch günstige 18 Dollar.
Es wird die letzte Ausgabe sein. Nach fast 50 Jahren endet die Ära des vielleicht nicht wichtigsten oder besten, aber selbstverständlichsten Filmnachschlagewerks der Welt.
Wer schuld ist? Das Internet natürlich. Wer kauft ein Buch mit Kurzkritiken, wenn er per Google 50 Langkritiken zur besseren Übersicht querlesen kann? Wer greift zum Bücherschrank, wenn er sowieso schon vor dem Rechner sitzt? Was sich heute Filmfan nennt, hat keinen Respekt mehr vor der geradezu deutschen Pedanterie, mit der Maltin versucht hat, ALLES in einen Band zu packen.
Da Schlimmste aber ist: Ich bin selber “einer von denen”. Meinen letzten Maltin habe ich 2003 gekauft. Er steht fast ungelesen im Schrank.
Sei’s drum – den 2015er besorge ich mir. Als glorreichen Abschluss.
Ich hab’ den 2000er, der ist mittlerweile auch zwei Bücher, weil der Rücken in der Mitte vom vielen Benutzen durchgebrochen ist. Die meisten Bewertungen gehen allerdings gar nicht.
Ja, das mit den “zwei Büchern” hab ich auch (lustigerweise auch beim 2000er). Ich hab dann mal auf 2013 upgedated. Den 15er werde ich dann der Nostalgie wegen wohl auch noch mal kaufen.
Ich bezweifle ja ernsthaft, dass die meisten deiner Leser jung genug sind, um nur dank Internet Filmfan geworden zu sein:-)
“Viele von euch werden gar nicht mehr wissen, wie es war, ein Filmfan zu sein, bevor es das Internet gab.”
Da ich erst seit 2008 einen Internetanschluss habe, weiß ich noch genau wie das war.
Wir waren lange Zeit sogar so weit ab vom Schuß, daß wir weder wussten, welche Sekundärliteratur es hab und/oder welche davon etwas taugen würde. Zugegeben, wenn wir denn in die Stadt gefahren sind, haben wir uns lieber mit primären Dingen eingedeckt, denn die Preise waren hoch genug, um damit das Budget aufzufressen. Vielleicht hätte ich einige Experimente nie gemacht, wenn ich so ein Buch gehabt hätte. Vielleicht wäre das gut gewesen, vielleicht habe ich aber gerade so meine Basis ausgebildet. Das Internet hat in diesem Sinne ganz viel vom “Wir wussten es nicht besser!” geraubt, weil wir eben ganz vieles nicht wussten. Auch der Maltin ist mir erstmals in DVD-Bonusmaterialien begegnet. Scheint ein pfiffiges Kerlchen zu sein.
Och, den Maltin gab es noch? Ich hatte irgendwo mal eine 86er-Ausgabe gehabt, aber der war mir zu komprimiert. Ich habe stattdessen alle Jahresausgaben des „Fischers Film Almanach“ gehortet – die haben alle Kino- und Video[1]premieren eines Jahres in Deutschland ausführlich, kompetent und manchmal auch bissig[2] besprochen. Das „Heyne Filmjahrbuch“, das ein bisschen länger überlebte, war leider kein vollwertiger Ersatz.
Seitdem ist für mich der „Filmdienst“[3] die einzig brauchbare Alternative für’s vollständige deutsche Kino.
Die erste Filmliste in meinem Computer kam aus dem Usenet (oder kam das aus ‘ner Telefonmailbox… oder aus dem ax.25-AFu-Netz? Egal[4]) und war eine Liste von Goofs – und das war dann wohl die Basis für die spätere IMDB.
[1] Ja, lang ist’s her
[2] „Orlando”(sp?) von Ottinger
[3] die katholische Zickereien von „Die Sünderin“ bis “Leben des Brians” hat er schon lange abgelegt
[4] … und ich hab mit Fachbegriffen, die keiner kennt strunzen können …