03
Mai 2014

Eine Nacht, wie ich keine zweite brauche

Themen: Neues |

Eigentlich wollte ich heute mit der neuen Blog-Serie “Der unvorhersehbare Alltag von Rufus & Becky” beginnen (Arbeitstitel), denn wir haben zwei neuen Katzen, was mit entsprechend “cat content” gefeiert werden muss. Rufus sitzt in diesem Augenblick am Fußende des Sofas und leckt mir das Bein.
Aber das Leben ist mir dazwischen gekommen – mit einem Ereignis, dessen Schilderung mehr dramatische Potenz besitzt als alles, was unsere kleinen Scheißerchen hier gerade anrichten.
Es begann recht harmlos. Die LvA bereitete uns das gemeinsame Essen zu, lecker überbackenes Huhn mit Kartoffelgratin, dazu Erbsen. Rufus und Becky freuen sich, denn die Hühnerreste bekommen sie (angebraten) in den Napf. Legga!
Während ich mir das Essen auf dem Teller zurecht schiebe, bemerke ich, dass mein linkes Auge juckt. Wobei “jucken” der falsche Ausdruck ist. Es brennt. Und wässert. Auch die Schleimhäute meiner Nase gehen zu wie der Bug der “Liparus” in “Der Spion der mich liebte”:
The_Spy_Who_Loved_Me_-_Liparus_engulfs_a_Submarine
Als Allergiker betreibe ich sofort Ursachenforschung: Irgendwas im Essen? Quatsch, die LvA weiß, auf was mein Stoffwechsel pissig reagiert. Pollen? Dafür bräuchte es einen konkreteren Anlass, wir waren heute nicht mal im Park spazieren. Die Katzen? Bitte nicht. Bei Abby hatte ich keine Probleme, aber Jungkatzen sondern angeblich mehr Allergene ab und ich habe durchaus die Anlage zu einer Tierfell-Allergie (an der auch meine Mutter und mein Bruder leiden).
Ich spreche das Thema an: Was, wenn ich auf die Katzen doch allergisch reagiere? Es ist ein so schmerzhaftes wie kurzes Gespräch: Dann müssen sie weg.
Doch das glaube ich einfach nicht. Zuerst einmal brennt vor allem mein linkes Auge, es juckt nicht wirklich und wird auch nicht dick. Und auch die Geschwindigkeit, mit der es bergab geht, ist untypisch. Zum Ende des Essens muss ich schon in kaltes Wasser getauchte Handtücher auf mein Gesicht legen, um die Schmerzen ertragen zu können.
Die LvA macht sich Sorgen und ist rechtschaffen wütend, dass ich ihre Ängste mit einem “Wird schon, lass mich einfach nur ein bisschen liegen” wegwische. Ich will halt Mann sein – obwohl ich selber sehr beunruhigt bin. In meinem Körper tobt was, mein ganzes System steht unter Feuer, das kann ich spüren. Obwohl ich regungslos auf dem Sofa liege, herrscht Krieg. Und in diesem Moment bin ich auf der Verliererseite.
Nach zehn Minuten spricht mich die LvA vorsichtig an. Sie hat gegoogelt – die Symptome, aber auch alles, was ich in den letzten 20 Minuten vor dem Essen gemacht habe. Und sie ist auf etwas gestoßen.
Wer sich schon mal Fotos oder Videos meines Arbeitszimmer angesehen hat, dem ist vielleicht ein größerer Kaktus aufgefallen, der dort seit Jahren vor sich hin wächst. Genau genommen ist es kein Kaktus, sondern ein Dreikantiger Wolfsmilch.
kaktus klein
Einer der Triebe ist mittlerweile so groß gewachsen, dass die Pflanze im Topf kaum noch aufrecht stehen kann, sondern zur Seite zu kippen droht. Kurz vor dem Essen habe ich eine Küchenschere genommen und gesagt “Ich schneide den Trieb mal fix ab”.
Schnipp schnapp – gesagt, getan. What’s the worst that could happen?

Es muss nur darauf geachtet werden, dass aus der Wunde für Minuten der für Euphorbien typische giftige Milchsaft austritt. Hautkontakt damit sollte vermieden werden.”

Und dann das hier:

“Für den Stecklingsschnitt und für alle sonstigen Arbeiten, bei denen Euphorbiensaft austreten kann, sollten Sie Gummihandschuhe und Schutzbrille tragen. Da selbst der unsichtbare Dampf des Pflanzensaftes Beschwerden verursachen kann, sollten Sie für ausreichende Belüftung sorgen. Berühren Sie während der Arbeiten niemals Ihre Augen.
Waschen Sie sich anschließend sehr sorgfältig und reinigen Sie alle benutzten Geräte. Waschen Sie sich nochmals.”

Auf einmal kommt mir die Idee, meinen Finger in den austretenden Saft zu tunken und hinterher nicht die Hände zu waschen, ziemlich dumm vor.
Um das mal in Relation zu setzen:

“Im Tierversuch wurde am Terpenester Resiniferatoxin eine 10000- bis 100000-fach stärkere Reizwirkung als bei Capsaicin, dem scharfen Wirkstoff des Chilis festgestellt.”

Okay, Zeit für ein Notfallprogramm, wie es scheint. Andere Leute, vernünftige Leute, würden den Arzt rufen. Herr Dewi lässt sich ein Vollbad ein, Eukalyptus. Kräftig untertauchen, Augen aufmachen. Zwischendurch immer wieder nasse Tücher aus der Tiefkühltruhe auf die Augen.
Es wird nicht besser. Es wird schlimmer.
Ich schleppe mich ins Bett. Nach drei Minuten ist klar: Das wird auch nix. Augen auf ist die Hölle – Augen zu ist auch die Hölle. Ich habe das Gefühl, als wäre die Innenseite meiner Lieder mir Rasierklingen beklebt, die mittlerweile nur noch im rohen Fleisch rubbeln.
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Keine Chance auf Schlaf oder auch nur Linderung. Was ich brauche, ist – ein Arzt, klar. Aber als echter Mann kommt das nicht in Frage, also lautet meine Antwort: Was ich brauche, ist – Ablenkung. Ich schaffe es in mein Arbeitszimmer, lasse mich in den Sessel fallen und beschließe, ein paar Pilotepisoden neuer Serien nachzuholen. So lange, bis es mir besser geht. Ich rechne mit der ganzen Nacht.
Tatsächlich ist meine Strategie nicht so schlecht. Die TV-Serien können zumindest meine Aufmerksamkeit halten, so lange ich nicht den Fehler mache, zu blinzeln. Mit Taschentücher reibe ich mir die Nase wund, nach zwei Stunden ist der Haufen neben dem Sessel so hoch wie die Armlehne. Ich bin todmüde. Mir geht’s elend. Aber Bettruhe ist in dem Zustand auch keine Option.
Gegen 2 Uhr schreibe ich den Jungs von Hyperland, dass sie am Wochenende nicht mit einem Beitrag von mir rechnen sollen. Auf Facebook verkünde ich meinen siechen Status. Die Mitleidsbezeugungen tun mir gut. Ein Arzt wird dringlich angeraten. Ich merke, dass ich mittlerweile fast zustimmen möchte – aber nicht glaube, das in meinem Zustand organisiert zu bekommen. Eher beiläufig fällt mir auf, dass ich ständig vor Schmerz die Kiefer aufeinander presse.
Es ist ein ganz seltsames Gefühl. Ich habe noch so deutlich gespürt, dass mein Körper gegen etwas kämpft, dass mein Stoffwechsel wie eine Armee einen verzweifelten Kampf gegen eine übermächtigen Feind kämpft, dass es einen Invasoren zu besiegen gilt. Ich möchte meinen Abwehrkräften zurufen: “Vorwärts, ihr Hunde! Bis zum Letzten!”
Gegen 3 Uhr erreiche ich die Balance aus totaler Erschöpfung und Schmerzgewöhnung, die zumindest die Möglichkeit verspricht, in einer einminütigen Feuerpause in einen unruhigen Schlaf zu verfallen. Ich taumel ins Schlafzimmer, bitte die besorgte LvA, mich einfach nur liegen zu lassen. Sie will unbedingt einen Arzt rufen. Das lehne ich ab. Dabei stelle ich fest, dass ich Schüttelfrost habe. Und so eine Art spontanes Fieber. Ich sage es ihr nicht.
In meinem Leben habe ich ca. fünf Nächte gehabt, in denen ich mich sterbenselend fühlte: Anfang der 90er nach einer Lebensmittelvergiftung, 1997 mit einer Wurzelentzündung, 2005 mit einer verrenkten Schulter, etc. Die aktuelle Nacht hat schnell den Einzug in den elitären Club geschafft, jetzt drängt sie zur Spitze vor.
Ein, zwei Stunden warte ich auf die Minute, die mir den Schlaf ermöglichen soll. Sie ziert sich. Schwere Kopfschmerzen setzen ein, gefolgt von schweren Kieferschmerzen – eine Folge der permanenten Zähnepresserei, keine Frage. Die LvA sucht Dolomo, findet Thomapyrin. Ich höre die Kirchtürme von Speyer 4 Uhr schlagen, ein paar Besoffene durch die Gasse grölen.
Irgendwann schlafe ich ein.
Ich wache gegen 10 Uhr auf. Die Augen öffnen sich, ohne dass es brennt. Gut, denke ich. Guter Anfang. Aber ich kann kaum aufstehen. Mein Körper ist aus Eisen und das Bett ein Magnet. Als ich es nach unten in die Küche schaffe, habe ich das Gefühl, schon wieder schlafen gehen zu müssen. Alle Reserven auf Null, mein Magen flüstert mir zu: “Bitte größtmögliches Frühstück zubereiten”. Ich nehme das als gutes Zeichen.
Tatsächlich lege ich mich gleich nach dem Frühstück noch einmal hin. Zwei Stunden schlafe ich wie ein Stein. Die Augen sind immer noch rot, aber es schmerzt nicht mehr. Langsam, ganz langsam sickern die Nährstoffe vom Frühstück in die Extremitäten durch. Ich schreibe meinen Beitrag für Hyperland doch noch.
So fühlt sich also eine Vergiftung durch Wolfsmilch an. Schön, dass wir das geklärt haben. Brauche ich auch nicht noch mal.
Andererseits: Ich hätte das auch eine Woche lang durchgehalten für die Gegenleistung, dass es keine Katzenallergie ist.



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Peroy
Peroy
3. Mai, 2014 20:40

Eine solche Nacht hatte ich erst einmal… Zahnschmerzen so schlimm, dass ich mir gewünscht hab’, dass jemand mit ‘ner Schrotflinte vorbeikommt und mich abknallt. Schmerztabletten gefressen wie Gummibärchen gefressen, ohne dass es etwas geholfen hätte (oder doch unr ohne wär’s NOCH schlimmer gewesen…?). Aber du bist ja auch fünfmal so alt wie ich, da geht bestimmt noch was… 🙂

Uli
Uli
3. Mai, 2014 20:53

Mich hätte die Vorstellung möglicherweise zu erblinden zu einem Arzt getrieben…

Wortvogel
Wortvogel
3. Mai, 2014 21:08

@ Uli: Da primär das linke Auge in Mitleidenschaft gezogen war, blieb ich hocken in der Vorstellung, künftig wie Nick Fury rumzulaufen…

DMJ
DMJ
3. Mai, 2014 21:27

Hm… An sich sollte man sich freuen, wenn einem Cat Content (zumindest zeitweise) erspart bleibt, aber das hier ist irgendwie nicht die angenehmste Alternative. X_X

Nico
Nico
3. Mai, 2014 21:39

Hatte sowas mal mit einer Mittelohrentzündung an der Adria in den 80ern. Urlaub versaut und dank Verständigungsproblemen mit il dottore fast auf einem Ohr taub geworden. Mein aufrichtiges Mitgefühl, aber bin auch happy, dass die beiden Miezen nicht schuld sind. Miezen sind was feines.

Howie Munson
Howie Munson
3. Mai, 2014 21:48

Ich hoffe der “Nicht-Kaktus” ist nun eine “Nicht-Zimmerpflanze”… Und geh beim nächsten Mal zum Arzt.

Mic
Mic
3. Mai, 2014 21:53

Ich finde, das gehört als zusätzliche Strophe in Grönemeyers “Männer” eingearbeitet!
Aber ich kenne das aus eigener Erfahrung. Nicht das mit der Wolfsmilch (ich weiß schon, warum ich dem Grünzeug misstraue), aber eine solche Nacht. Bei mir waren es Gallensteine, dauerndes Erbrechen und ein Magen, der dringend die Speiseröhre raufkommen wollte. Ich muss gestehen, dass ich irgendwann eingeknickt und zum Arzt gegangen bin (gegangen wurde trifft es besser, denn gehen ging weitgehend nicht mehr).
Allerdings freue ich mich für die Katzen und auf neuen Katzencontent, der sich wohlwollend vom sonstigen Katzencontent abhebt!!

Marcus
Marcus
4. Mai, 2014 01:09

So eine Nacht hatte ich auch mal. Das Zauberwort lautete damals “Blinddarmentzündung”. Am Abend ging es mir noch gut. Am nächsten Tag lag ich so gegen halb elf schon auf dem OP-Tisch.
Der Arzt sagte, das sei so ein akuter Fall gewesen, dass es unbehandelt am nächsten Abend, keine 24 Stunden nach den ersten Beschwerden, schon lebensbedrohlich gewesen wäre.
Ich sagte dem Arzt, dass ich nie Gefahr gelaufen bin, DAS zu verschleppen.

Achim
Achim
4. Mai, 2014 14:12

Ich widerspreche Howie.
Die Pflanze hast du so lange, die gehört zu dir. Behalte sie bitte, war deine Schuld.
F20.6 hat mir nur eine Nacht richtig versaut, ansonsten die Tage, über Wochen und Monate, da habe ich dann nachts irgendwie geschlafen. Ist aber mit körperlichem Schmerz nicht zu vergleichen.

Sebastian
Sebastian
4. Mai, 2014 19:06

Ohweh! Ich kann dich absolut verstehen. Bei mir lautete das Zauberwort “Wir trocknen und mahlen Habaneros selbst” – das war eine unglaublich dämliche Idee. Ich glaube, ich war so gegen 2 Uhr morgens soweit, dass ich mich einfach ergeben habe und hoffte, man möge mich von meinem Elend erlösen. Egal wie.

comicfreak
comicfreak
5. Mai, 2014 09:11

..ich freue mich dass es dir besser geht und hoffe, die LvA versohlt dir angemessen den Hintern!
Stell dir vor, eine der Katzen würde so in den Seilen hängen, würde aber darauf bestehen, dass es ihr gut geht und sie nicht zum Tierarzt muss (und du könntest sie nicht gegen ihren Willen hinschleifen), dann weißt du, was deine Frau mitgemacht hat!
Spendier ihr irgendwas Partnerwellnessmäßiges 😉

heino
heino
5. Mai, 2014 10:26

Ich muss auch sagen, das war ungewohnt dumm von dir und hätte auch wesentlich böser ausgehen können. Schön, dass es glimpflich ausgegangen ist, aber daraus solltest du echt für die Zukunft lernen.

Wortvogel
Wortvogel
5. Mai, 2014 10:37

@ heino: Basierend auf 45 Jahren Erfahrung muss ich leider sagen, dass die Chance, daraus zu lernen, eher gering ist.

comicfreak
comicfreak
5. Mai, 2014 11:53

..dein Todeananzeigenspruch ist dann “er verstarb nach kurzer schwerer Sturheit”
😛
Komm, das wär doch peinlich 😉

Wortvogel
Wortvogel
5. Mai, 2014 12:00

@ Comicfreak: Made my day!

fenris
fenris
5. Mai, 2014 16:02

Ich kenne Ihren Blog erst seit kurzer Zeit (Irgendwie kam ich auf den Bericht über die alte Dame, der mich sehr beeindruckt hat), schaue aber immer öfters rein.
Danke für den letzten Satz.
Von einem, der elf Stubentiger beheimatet (und meint, daß ein Arztbesuch angeraten gewesen wäre)

heino
heino
6. Mai, 2014 08:29

@WV:das ist dann wohl das “manche lernen`s nie und andere noch viel später”-Syndrom:-)

Kai
Kai
6. Mai, 2014 13:14

Ok, da habe ich auch eine Anekdote. Ich hatte mal eine Verblitzung. Zu lange in den Schweißbrenner geglotzt. Nachts dann auf einmal Schmerzen in beiden Augen, als hätte jemand Metallspäne unter die Lieder geklemmt. Da aber genau das unser Verdacht war, hat mich mein Vadder (schon länger her) noch Nachts zum Arzt gekarrt. Deshalb blieb mir solch eine Nacht erspart. 🙂

Torsten
6. Mai, 2014 13:57

Vielleicht ist es ja übertrieben, aber eventuell wäre es angeraten, zumindest nachträglich zum Arzt zu gehen, und zwar zum Spezialisten, weil Hausärzte da recht knapp über Google-Niveau wabern. Hat natürlich was von Mimimi, muss man auch nicht im Blog ausbreiten, aber einen bescheuerten Augen-, Leberschaden oder sonst was davonzutragen. wäre schon dumm.
Andererseits: Sterben müssen wir sowieso irgendwann.

Jor
Jor
6. Mai, 2014 19:53

Da ich eine Sissi bei Schmerzen bin, wäre ich zum Arzt. Vermutlich wäre der Spuck mit einer einfachen Kortison Spritze vorbei gewesen.
Denke nach so einer heftigen Reaktion wäre die Entsorgung das Sicherste.

sergej
sergej
6. Mai, 2014 22:42

Entsorgung?
Mit ein bisschen Pflege hält der Wortvogel noch ein paar Jahre durch. Einmal ordentlich polieren, und er sieht fast wieder aus wie neu.

halbblut
halbblut
7. Mai, 2014 14:43

Ich kann dieses Männlichkeitsgehabe, nicht zum Arzt zu gehen, einfach nicht verstehen. Ist ja mindestens so schlimm wie der Kollege, der trotz nächtlicher Nierenkolik den Anruf beim Notdienst verweigert und dafür in seinem eigenen Blut erwachte… Meinen LvA hätte ich bei den beschriebenen Symptomen gar nicht erst gefragt, sondern umgehend verarzten lassen.
Aber der Spruch vom comicfreak ist mega. 🙂