05
Sep 2011

Kein Anschluss: Die Frau, der Tunnel, das Telefon

Themen: Neues |

Vielleicht eine zu kleine Geschichte, um sie einem großen Publikum zu erzählen. Vielleicht so banal, dass ich Fragen stelle, wo keine gestellt werden müssten. Vielleicht ist alles auch ganz anders gewesen.

Schwabing IST anders. Lebt man hier, nimmt man das Viertel (zumindest östlich von der Leopold) nicht als Schickimicki-Tummelplatz war oder als Edelfestung wahr, in der die Bussi Bussi-Gesellschaft überteuerte Macchiatos trinkt, während überzüchtete Trendhunde aus Cabriofenstern hecheln. Stattdessen: schräge Typen, Wracks mitunter, verwahrloste Hinterhöfe, alte Vespas.

Vier Theater im Umkreis von 200 Metern, vier Tattoo-Studios. Restaurants von tibetanisch bis alpenländisch. Eichhörnchen und Kopfsteinpflaster, Eso-Buchhandlung und Hofpfisterei. Unsere Nachbarin ist 103, unter uns lärmt gerne mal die WG (sie nennen es Party, aber bei aller Liebe – das ist doch keine Musik!).

Natürlich gibt es das Klischee: Als wir das erste Mal im Café Münchner Freiheit frühstücken waren, saß uns Konstantin Wecker schräg gegenüber, als würde er dafür bezahlt.

Ähnlich wie in Giesing schätze ich an Schwabing den Steinwurf, den alles entfernt ist, was ich irgendwie brauchen könnte. Endlich ist das “Sangam” nur noch einen Spaziergang weit weg, endlich kann ich auch mal kurzfristig im “Ringelnatz” einen Milchkaffee trinken.

Zu meiner Freude wurde vor nicht allzu langer Zeit die gesamte Fläche unter der Münchner Freiheit aufwändig saniert. Es ist hell und modern, und am Nordeingang steht meist ein osteuropäischer “Musiker” mit Quetschkommode oder Fiedel. Von dort sind es ca. 100 Meter Tunnel bis zum unterirdischen Platz, an dem man den MVV-Bereich zu den U-Bahnen betreten kann. Links Geschäfte (O2, Mister Minit, Drogerie), rechts Plakate und ein einsames Münztelefon (sofern es noch Münzen nimmt, das habe ich nicht überprüft).

Und da steht neulich diese Frau. Nicht mehr jung, was eine bizarre Einschätzung ist, denn sie umfasst mittlerweile eine Spektrum bis “jünger als ich”. Vielleicht 40, plusminus fünf Jahre. Blonde Haare, gepflegt gekleidet. Kein Hin-, aber auch kein Weggucker. Sie würde in eine kleine Bankfiliale ebenso passen wie hinter den Tresen einer Bäckerei.

Die Frau steht vor dem Münztelefon. Besser gesagt: Sie steht vorgebeugt vor dem Münztelefon. Mit dem Gesicht näher am Gerät, als man es gewohnt ist. Vielleicht fällt mir das auf. Oder die Tatsache, dass sie den Hörer nicht abgenommen hat. Mein erster Gedanke: Sie hat ihre Brille vergessen und müht sich nun, die Anleitung auf dem grauen Kasten zu lesen.

Das kann aber nicht sein.

Denn sie wählt.

Mit ruhiger Hand tippt sie eine Telefonnummer in die kalten Metalltasten. Ohne den Hörer abgenommen zu haben. Den Blick intensiv auf das Gerät gerichtet. Vornüber gebeugt.

Ich frage mich, was das soll – das Gerät nimmt keine Nummern an, solange der Hörer auf der Gabel liegt. Und ich kann nicht erkennen, dass sie Geld eingeworfen oder eine dieser Chip-Karten eingesteckt hat. Vermutlich ist es das, was meine Aufmerksamkeit erregt, warum ich langsamer gehe, um sie unauffällig zu beobachten. Sie bemerkt es nicht. Mich beschleicht das Gefühl, sie würde mich auch nicht bemerken, wenn ich direkt neben ihr stünde. Sie tippt ihre Nummer ein.

Zehn Zahlen, zwanzig Zahlen. Langsam, bedächtig, aber ohne die Unsicherheit eines Menschen, der sich zu erinnern versucht. Sie KENNT die Nummer. Dreißig Zahlen, immer mehr. Mir fällt auf, dass ich ja gar nicht gesehen habe, wie und wann sie damit anfing. Vielleicht hat sie schon hundert Nummern eingetippt. Tausend?

Ich bin schon längst an ihr vorbei, kann aber nicht aufhören, hinzuschauen. Ich bleibe stehen, drehe mich noch einmal um. Sie tippt. Kein Innehalten, kein Warten auf eine Reaktion der Maschine. Die Zahlenkolonne vermittelt nun das Gefühl, dass sie nicht telefonieren will, sondern den Münzapparat programmiert. Codes, Binärfolgen, Befehle.
Der linke Arm, mit dem sie den Hörer halten müsste, hängt schlapp an ihrer Seite. Sie hat keine Handtasche dabei, keine Einkaufstüte. Sie steht nur da und drückt die Tasten in einer für mich so willkürlichen wie endlosen Abfolge.

Ich möchte ihr helfen. Aber wie? Ansprechen? Aus welchem Grund? Und was geht es mich an? Vielleicht sollte man jemanden verständigen. Polizei? Unfug. Notarzt? Die würden mich auslachen. Aber es widerstrebt mir, die Frau in ihrem eigenen kleinen Universum zurück zu lassen. Wie lange wird sie tippen? Der Tunnel hat keine Öffnungszeiten, das Telefon wird nur noch selten benutzt. She has all the time in the world…

Mittlerweile hat sie 50, 60 Nummern eingetippt. Ich frage mich, ob sie etwas weiß, das uns allen verschlossen bleibt. Ob es Nummern gibt, die man anrufen kann, ohne den Hörer abzunehmen. Nummern in Welten, die in keinem Telefonbuch stehen. CIA? Narnia? Die Zukunft? Gott? Die Großen Alten? Was, wenn ich mich irre – wenn sie tatsächlich den Anschluss kennt, der hinter sechs- oder siebenhundert Nummern steckt? Wenn man nur lange genug die eine Tastatur auf dem einen Telefon in dem einen Tunnel an der Münchner Freiheit bearbeiten muss? Lautet die Antwort 42? Was, wenn sie sich dabei vertippt? Würde ich nicht genau so konzentriert vor dem Apparat stehen, so sorgfältig eine Nummer nach der anderen wählen, ohne mich vom Rest der Welt ablenken zu lassen?

Irgendwann reiße ich mich los. Es ist ein Nullsummenspiel, solange ich die Frau nicht anspreche. Und ansprechen werde ich sie nicht.

Später am selben Tag komme ich noch einmal am Fernsprecher vorbei. Die Frau mit den blonden Haaren ist verschwunden.

Ich hoffe, sie hat erreicht, was sie wollte. WEN sie wollte.



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Dietmar
Dietmar
5. September, 2011 08:19

Bedauernswerte Frau, vermutlich.
Ob sie wohl einfach aufgehört oder jemand das beendet hat?

aCks
aCks
5. September, 2011 08:45

Soweit ich weiß, lassen sich mitlerweile mit den öffentlichen Telekom-Fernsprechern auch SMS versenden.

Snyder
Snyder
5. September, 2011 09:51

Vielleicht eine versteckte-Kamera-Show die sich durch Subtilität von der Konkurrenz abheben will?

Lothar
Lothar
5. September, 2011 09:54

> Vielleicht eine versteckte-Kamera-Show die sich durch Subtilität von der Konkurrenz abheben will?
Unwahrscheinlich. Um das Augenommen senden zu können, müsste man den Aufgenommenen um Erlaubnis fragen. Da das nicht geschehen ist, gab es wohl auch keine Kamera, die aufgenommen hat.

Tyler
Tyler
5. September, 2011 10:08

Ich denke ACks hat es! Schade eigentlich, ein Mysterium weniger.
Zitat Internet:
“Um den Service zu nutzen wählen Sie einfach die “SMS-Taste” an der Telefonzelle. Anschließend geben Sie, genauso wie bei Ihrem Handy, die SMS über das Zahlenfeld ein. Die Nachricht können Sie dann entweder per SMS, Email oder auch per Fax versenden.
Der Service ist natürlich vollkommen Anonym, als Absender erscheint immer die Nummer der Telefonzelle. Bezahlt werden kann mit Münzen oder einer Telefonkarte.”

Wortvogel
Wortvogel
5. September, 2011 10:20

@ Tyler: Nein, das glaube ich nicht. Die ganze Haltung der Frau, die elend lange Zahlenkolonne – und wer verschickt SMS vom Münztelefon? Wie dem auch sei, meine Variante finde ich schöner.

Patrick
Patrick
5. September, 2011 10:34

Das was ich bisher kennen gelernt habe, bedeutet, diese Menschen einfach in Ruhe zu lassen.
Sie würden sowieso nicht verstehen was WIR von ihnen wollten, in ihren Augen macht es Sinn, dass zu tuen und sie würden nicht verstehen, warum wir in UNSEREM jämmerlichen Universum das nicht auch machen.
Nicht SIE sind diejenigen die etwas verkehrtes tuen, sondern WIR. Es war wichtig diese Nummern zu benutzen, es zu machen, es zu tuen.
Ein bisschen wie wenn man über die gepflasterte Straße läuft und aus irgendeinem Grunde, nur alle zwei Steine berührt. Ein Tick.
Auf der anderen Seite, schätze ich diese Menschen. Sie machen sich nichts aus dem ganzen Schabernack den wir hier betreiben. Arbeiten, versuchen kluge Gedanken zu Stricken, sich über Computer gedanken zu machen.
Diese ganzen Dinge, die “normale” Menschen eben machen und am Ende doch keinen Sinn ergeben. Was haben wir von dem ganzen Kram den wir hier verrichten? Am Ende werden von doch von dem großen und ganzen Fremdgelenkt. In Bahnen gedrückt, die wir niemals durchbrechen können, außer wir werden wie SIE.
Netter Gedanke, irgendwie.

Marcus
Marcus
5. September, 2011 10:41

Twilight Zone, München-Edition.
Oder sah sie aus, als könnte sie diesen Herrn hier kennen: http://www.allmystery.de/i/t12aqkR_uh609671271934203neo1.jpg

Nikolai
Nikolai
5. September, 2011 11:07
Patrick
Patrick
5. September, 2011 11:21

@Nikolai: Du hast es verstanden. Und das Bild hätte ich schon wieder vergessen, wärest du nicht gewesen! Danke dir!

reptile
reptile
5. September, 2011 12:18

Also ich finde die Geschichte super.Twilight Zone, ja das kam mir auch in den Sinn. Das Gedankenspiel, dass die Frau tatsächlich etwas bedeutendes machen KÖNNTE und nur für alle Anderen komisch erscheint gefällt mir.
In der oben genannten Serie gab es mal eine Folge, wo ein Mann die verschiedensten Dinge in seinem Keller in einer bestimmten Reihenfolge anordnen musste: Pfeifenreiniger, Golfschläger Trompeten. Sonst “würde die Ordnung der Welt” gestört werden und es gäbe schwere Unglücke. Irgendwann wurde er dann in die Klapse gebracht und wenn ich mich recht erinnere, wurde daraufhin eine Insel von einem Tsunami vernichtet.
Hoffen wir mal, dass die Frau es geschafft hat, alle Zahlen richtig einzugeben….

Stephan
Stephan
5. September, 2011 12:34

Eine schöne Geschichte, leider wird es Deine letzte gewesen sein, SIE sind jetzt bereits unterwegs. Leg Dich nicht mit den grauen Herren an!
Zu Deiner München-Einschätzung muss ich Dir widersprechen – die Gegend um die Münchener Freiheit bringt doch niemand mit Schicki-Micki-München in Verbindung. Die gesamte Schwabing-Manie (die sich schon immer größtenteils auf die Maxvorstadt bezog) ist schon lange abgeebbt. Die selbsternannte Szene (kiffende Dauerstudenten hauptsächlich) treibt sich im Glockenbach herum, das neue Geld zieht in Gentrifizierungs-Zentren, das alte Geld bleibt da, wo es schon immer sitzt.
Nichts für ungut, ich mag die Gegend in der Du wohnst und habe einige Jahre in der Marktstr. gearbeitet. Wirklich schön ist die Esoterik-Buchhandlung neben dem Manga-Laden – man wusste nie, wo die seltsameren Gestalten herauskommen.

Pogopuschel
Pogopuschel
5. September, 2011 14:26

4 8 15 16 23 42
Vielleicht hat sie ja diese Zahlenfolge immer wieder eingegeben. 🙂

reptile
reptile
5. September, 2011 14:51

Genau! Alle 108 Minuten….SONST!!….

Marcus
Marcus
5. September, 2011 15:24

@reptile: ?

Karsten
Karsten
5. September, 2011 15:38

@Marcus: Das ist doch aus Lost..
Weiss ich aber nur, weil ich das bei Wikipedia gelesen hab ^^
Schöne Geschichte aber ich will jetzt endlich wissen, warum sie das eingegeben hat. Vielleicht kann man so tatsächlich aus der Matrix entkommen? 😉

Marcus
Marcus
5. September, 2011 16:01

@Karsten: Ah, danke.
Und was die Frau da am Telefon gemacht hat, werden wir nie wissen, weil Torsten zu feige zum Fragen war.
Andererseits ist das auch besser so, womöglich wäre das Ganze sonst noch wie das “Just”-Video von Radiohead ausgegangen: Torsten fragt, die Frau reagiert gar nicht, er fragt wieder, immer energischer, dann fängt sie an zu flüstern… Torsten geht ganz dicht ran mit dem Ohr…. Torsten geht mit einem leeren Blick in den Augen zum nächsten Münztelefon und fängt an, selber endlose Zahlenkombinationen einzugeben…. 🙂
http://www.youtube.com/watch?v=-7L3jIpBAHg

Achim
Achim
5. September, 2011 19:30

Ist doch ganz klar, sie hat eine Nachricht an einen Geheimdienst übermittelt.
Der Vatikan hat einen allseits geachteten Geheimdienst. Deutschland übrigens nicht, über den BND lacht die ganze Welt.

Exverlobter
Exverlobter
5. September, 2011 19:32

Schwabing hat seinen Reiz verloren, seit die Schwa7 und Big-Mamas Kebab vertrieben wurden.

Krischn
Krischn
5. September, 2011 23:38

Also ich hab schon SMS vom Münztelefon verschicht (shame on me). Wenn mich nicht alles täuscht, muss man selbst dann den Hörer abnehmen, sonst ist das Ding nämlich aus.
Aber ich hab auch schon ähnliche Szenen am Fahrkartenautomat erlebt…

Achim
Achim
6. September, 2011 14:52

Und bei Kurznachrichten liegt es in der Natur der Sache, dass man recht viele Tasten mehrfach drückt, es sei denn, die öffentlichen Fernsprecher haben T9.

Howie Munson
Howie Munson
6. September, 2011 22:39

ich glaub nicht das man den hörer die ganze zeit halten muss, wenn tatsächlich eine SMS versendet werden kann… und den Anfagn hat der wortvogel ja nicht gesehen…
desweiteren ist auch die Versteckte Kamera nicht komplett aus dem Rennen, da zum einen nicht JEDER der vorbeiläuft später in die Sendung kommt und zum anderen für verpixelte Gesichter auch eher keine Erlaubnis gebraucht wird…
naja vielleciht war es ja eine SMS (oder ähnliche Mitteilung) an den NCIS* getarnt als “versteckte Kamera”-Streich, FALLS jemand den Mut hat nachzufragen *ggg*
*=Namibia Central Intelligence Service
(war das schönste Kürzel bei tante Wiki 😉 )

Nikolai
Nikolai
7. September, 2011 00:07

Ich lasse die Geschichte mal einfach wirken, ohne mir Gedanken zu machen warum und wieso die Frau das wohl gemacht hat.
Denn das ist auch nicht wichtig, die Geschichte wirkt auch so.