Polizeistaat Deutschland 1989: Der Wortvogel als Rebell, Pirat – Verbrecher?
Themen: Neues |Ich war Zivi damals. Hab alten Damen die Einkäufe getragen, Fenster und Treppen geputzt, die Wohnung gesaugt – damit sie nicht ins Pflegeheim mussten. Werde ich sicher auch noch von erzählen. Aber nicht heute.
Ich hatte auch meine erste eigene Wohnung, bzw. WG – zusammen mit meiner Bekannten Birgit. Abnabelung vom Elternhaus war angesagt. Kein Geld, kein Auto, kein Stil, aber hirnverbrannt und lebensfroh. Coole Zeit.
Eines Tages schwang ich mal wieder den Staubwedel bei Frau C., als ihr Telefon klingelte – und zu meiner Überraschung war der Anruf für mich! Es war Georgette, eine Kollegin vom Sozialdienst. Sie klang aufgeregt: "Deine Mitbewohnerin hat gerade angerufen, du sollst sofort nach Hause kommen – die Polizei ist da!". Man muss wissen, dass die Sozialarbeiter durch die Bank schwer links und politisch bewegt waren – die Lakaien des Schweinestaats vor der Tür zu haben, war hochdramatisch.
Ich fuhr also mit der Straßenbahn heim, und fand 3 Beamte vor meiner Tür: einer in Zivil, zwei in Uniform. Sehr freundlich erklärte man mir, dass man einen Durchsuchungsbefehl für meine Räumlichkeiten habe, und Zugang wünsche. Ich bat um eine Begründung, und bekam ein Amtshilfeersuchen aus Bayern unter die Nase gehalten – wie es schien, hatte man in Süddeutschland einen dieser brandgefährlichen Videopiraten hochgehen lassen, die mit zwei Videorekordern und einem Haufen Horrorfilme in miserabler Qualität den Staat zu untergraben versuchten. Und bei dem… ja, nennen wir das Kind ruhig beim Namen: Terroristen!… hatte man auch einen Brief von mir gefunden. Der Videopirat und ich – offensichtlich schon eine kriminelle Vereinigung.
Die Realität war ungleich banaler: Der Typ schrieb für ein Horror-Fanzine, und ich hatte ihm einen Leserbrief geschickt. Von organisierter Kriminalität keine Spur.
Kurioserweise entschuldigte sich der Polizeibeamte vorab: er fände das total affig, wegen ein paar Videokassetten so einen Aufstand zu machen, aber sie seien von Amts wegen gehalten, das Gesuch der bayerischen Kollegen zu verfolgen.
Ich war ein wenig nervös: natürlich hatte ich ein Regal voll mit Horror-Raubkopien. Wer hatte das damals nicht? Ging ja auch nicht anders – offiziell waren die meisten Filme in diesen Fassungen gar nicht zu kriegen. War das schon illegal? Erwartete mich Einzelhaft bei Wasser und Brot – oder würde man mir gleich die Hand mit dem Zeigefinger für das "press play" abhacken?
Die Beamten sahen sich in meinem karg eingerichteten Zimmer um, schrieben ein paar der Titel von den Kassettenlabels auf, blieben dabei aber sehr zurückhaltend. Mein eigener Blick fiel auf den Schreibtisch – und damit auf drei Diskettenboxen, die ungefährt 800 raubkopierte C64-Spiele enthielten! Zu blöd, dass ich die nicht mehr hatte beiseite schaffen können…
Der Beamte in Zivil drehte sich nach ca. zwei Minuten zu mir um: "Ist ja wohl ziemlich offensichtlich, dass Sie hier nicht im kommerziellen Maßstab raubkopieren" – duh! Ich hatte ja nicht einmal einen zweiten Videorekorder. Ich musste eine Erklärung unterschreiben, dass die Beamten sich korrekt verhalten hatten.
An der Tür drehte sich der Polizist noch einmal zu mir um: "Sie haben Glück, dass der reguläre Staatsanwalt in Urlaub ist – seine Vertretung hat nur 'Verdacht auf Verbreitung von Horrorfilmen' auf den Durchsuchungsbefehl geschrieben. Normalerweise lautet die Formulierung nämlich allgemeiner 'Verdacht auf Verbreitung von Raubkopien' – wegen ihrer Computerspiele kann ich also leider heute nichts machen."
Und er zwinkerte mir tatsächlich freundlich zu.
Ein paar Monate später kam dann noch ein Schreiben:
Meine kriminelle Karriere – sie war kurz und fruchtlos. Beim Sozialdienst wuchs hingegen mein Ansehen. Immerhin war ich "Staatsfeind". Und bis zur nächsten Kollision mit der Staatsmacht wegen angeblicher Raubkopien sollte es noch 15 Jahre dauern. Schauplatz diesmal allerdings: Bayern.
Ein andermal…
Hätte man nicht eher die Eltern festnehmen sollen, die ihre Tochter Georgette nennen?
@ Pablo: Ich hatte Lehrerinnen, die Irmlind und Gunthild hießen – und eine Klassenkameradin mit den Vornamen Babette Rosine Elisabeth. Absoluter Klassiker allerdings: mein Geschichtslehrer mit dem VORNAMEN Kunz-Willich…
Bei Kunz-Willich schüttel ich mich vor lachen. Wer kommt denn wirklich auf solche Namen?
Aber zu deiner Erfahrung. Klingt ja nach richtigem Stadt-Abenteuer. 🙂 Ich bin ja froh noch nicht in diesen Genuß gekommen zu sein. Aber in diesem Sinne "Vive la révolution!"
Es verwundert mich allerdings schon, dass ein Leserbrief zu sowas reicht. Da muss man sich als Fan ja wirklich überlegen jemandem überhaupt zu schreiben. Man stelle sich vor, man findet bei demjenigen Drogen! 😛
Und damit sind wir wieder bei aktueller Politik.
Was alles als Anfangsverdacht in den letzten Jahren reichte und mitunter heute noch reicht ist echt erschreckend.
Aber darüber zu diskutieren gibt es andere Blogs…
Das "sog. Horrorfilme" im Einstellungsbeschluss begeistert mich irgendwie 😉
Selbst ein so dramatisches Zusammenrasseln mit der Staatsmacht führt – auch in Zeiten vollkommener Transparenz – nicht automatisch zur sozialen Ächtung. Du kannst z.B. noch Minister werden, wenn Du Dich zukünftig nicht mehr so rebellisch darstellst und Dich häufiger mal in den Anzug wirfst.
Insbesondere, da Du Deine Vergangenheit von selbst so offensiv aufarbeitest (Chapeau!). Schlimmer wäre es, wenn jemand zufällig bei den Stasi-Unterlagen drüberstolpert wäre.
Und das Blog werde ich trotzdem weiter lesen (auch wenn ich damit ja wohl eine Hausdurchsuchung 2. Grades riskiere).
Wurde im Übrigen die Wohnung der Eltern von Herrn Kunz-Willich auch durchsucht? Da wurde ja wohl ganz klar die Gesellschaftsordung untergraben – wenn das kein Terrorismus ist, weiß ich auch nicht.
Ich hatte erst letztes Jahr(2008) eine Hausdurchsuchung. Weil ich anno 2004(!!) bei einer Online Lotto Tippgemeinschaft genau einen Monat(!) mitgespielt hatte. Diese Firma war anscheinend eine Betrügerbande und man hatte Verfahren am laufen.
Mir erlärte man das eine Hausdurchsuchung deutschlandweit bei allen in der Datenbank der Firma registrierten Kunden durchgeführt werde. Wegen des Verdachts auf Beteiligung an einem Schneeballsystem.
Ich bin echt aus allen Wolken gefallen wie leicht man das Hausrecht verliert. Ich meine der Geldwert den ich an die Firma zahlte waren glaube ich €3,-
Zudem war ich doch wenn der Geschädigte. Tja, so siehts aus.
Aber auch bei mir war die Kripo sehr freundlich und beschränkte sich auf das nötigste.
@ Doc: Ist mir auch als erstes aufgefallen. Schade, dass da nicht auch was von "sog. Raubkopien", einem "sog. Urheberrechtsgesetz" und dem "sog. Herrn Dewi" steht. 😀
Ich würde gerne wissen, was 15 Jahre passiert ist 😀
@Wortvogel: Sicher, dass Kunz-Willich der Vorname war? In einigen Gegenden (wenn auch eher nicht in Düsseldorf) ist es ja üblich, den Nachnamen zuerst zu sagen (Bsp.: Der Hackl Schorsch)
@ Richard: Nach drei Jahren in seinem Unterricht sehe ich mich durchaus in der Lage, Vor- und Nachnamen zu unterscheiden – und "Freund" als Vorname wäre ja nicht sinnvoller 😉
Mir ist das mal in vergleichbarer Form vor ebenfalls rund 15 Jahren passiert, seinerzeit allerdings wegen des (unbegründeten) Verdachts, gegen das Betäubungsmittelgesetz verstossen zu haben. Glücklicherweise war das aber noch in Hamburg, wo man die Dinge ja auch nicht so eng sieht, von Freunden, die in Bayern studiert haben, habe ich allerdings wesentlich unerfreulichere Geschichten gehört.
Wegen solchen Geschichten liebe ich dieses Blog. 🙂
Wow…Da zeigen sich mal die Gefahren des Leserbriefschreibens…
Hm…
Kommentiare im Blog schreiben dürfte auch nicht viel anders sein…Also bleib gefälligst legal, verruchter Vogel, auf dass du uns nicht alle in Schwierigkeiten bringst!
Das doch mal ne Bettlektüre, schön geschrieben 🙂
Ach, Irmlind, Georgette, Gunthild — das sind doch wunderschöne Namen (für hoffentlich ebensolche Frauen). Kritischer ist da schon das Zusammenspiel übler Nachnamen und unsensibler Vornamenverabreichungsbevollmächtigter. Im Fränkischen ist der Familienname Schlüpfer durchaus verbreitet, und irgendwann stand eine Frau dieses Namens in meinem Laden. Vorname: Rosa. Hat mich dann doch leicht um Beherrschung ringen lassen.