13
Jun 2009

Abgesang auf einen ungeliebten Freund

Themen: Neues |

hertie

Hi Hertie,

hab’s eben in der Süddeutschen gelesen – bei dir soll vielleicht schon nächsten Monat Schicht im Schacht sein. Dann gehen die Lichter aus, und am nächsten Morgen nicht wieder an. Ein paar Wochen später rückt sogar die Abrissbirne an.

Vor ein paar Wochen hatten sie es ja verkündet – die drei Münchner Hertie-Häuser werfen zwar Gewinn ab, fallen aber dem Konkurs des Mutterkonzerns zum Opfer. Gibt’s das – ein Schüler, der gute Noten nach Hause bringt, aber trotzdem nicht versetzt wird?

Ich geb’s ja zu: Als ich 2002 nach Giesing zog, konnte ich dich auch nicht leiden. Du bist ein hässlicher Klotz, eine dieser architektonischen Nachkriegs-Sünden, als man glatte Betonfassaden noch für modern und urban hielt. Du stehst störend mitten im eher betulichen Giesing, als wärst du auch noch stolz drauf. Anpassen, einfügen, unterordnen? Du doch nicht. Du bist auf geradezu widerliche Weise "da" – und sonst wirklich gar nichts. Ich habe damals oft gesagt: "Der Wert meines Hauses wird signifikant steigen, wenn der blöde Kasten mal weg ist".

Bei SPIEGEL online gab es kürzlich einen Artikel über "Kathedralen des Kaufrauschs" – zu denen gehörst du ganz sicher nicht.

Aber ich habe mich an dich gewöhnt über die Jahre. Nicht gezwungenermaßen, sondern ganz freiwillig. Du bist so "um die Ecke", dass ich im Notfall auch schon mal in Hausschuhen eine Banane für mein Müsli bei dir kaufen konnte. Wann immer ich beim regulären Großeinkauf was vergessen hatte – du konntest aushelfen. Gerne auch mal mit Sachen, für die ich mich sonst auf den Roller hätte schwingen müssen: Socken, Kopierpapier, DVD-Rohlinge, Staubsaugerbeutel. Deine Lebensmittelabteilung: gut sortiert, Mittel- bis Oberklasse. Alles frisch. Nicht billig, aber gut. Das ist wichtig in einer Gegend, die ansonsten nur Discounter kennt – und den hässlichsten Großmarkt der Welt (in dem nicht ohne Grund der Spielfilm "Langer Samstag" mit Campino gedreht wurde).

Auch ansonsten brachtest du auf zwei Stockwerken wirklich eine ganze Menge unter: Mister Minit, Tchibo-Ecke, Automaten-Bäckerei, Kurzwaren-Abteilung. Nur kein Klopapier. Das hat mich immer gewundert.

Es brauchte eine Weile, bis ich erkannte, dass du wirklich ideal für ein Viertel wie Giesing bist: der zentrale Ort, an dem man praktisch alles bekommt. Außer Klopapier. Du ersparst den Menschen Fahrten in die Peripherie, oder in die Innenstadt, nur um Alltägliches einzukaufen. Büroklammern, Reißverschluß, Kaffeefilter.

Vielleicht nicht schön, vielleicht nicht unersetzbar – aber praktisch. Wie ein guter Werkzeugkasten. Oder Wikipedia.

You don’t know what you got till it’s gone. Ist es nicht immer so? Ich habe dich nicht gemocht, und dir war es egal. Du hast dich in mein Leben geschlichen, durch Kleinigekeiten, Handreichungen, Gefälligkeiten. Jetzt mag ich dich – und du wirst abgerissen.

Das neue Haus soll schöner werden, und besser zum Viertel passen – was immer das bedeutet. Es sollen Geschäfte her, aber vermutlich kein richtiges Kaufhaus. In Giesing sind in den letzten Jahren viele traditionelle Läden durch diese ekelhafte Mischung aus Handy-Shops, Internet-Buden, und Billig-Friseure ersetzt worden. Dort, wo die Silberhorn-Apotheke war, macht jetzt der erste "Subway" des Viertels auf.

Du warst vermutlich mal das Wahrzeichen der Moderne in einem Traditionsviertel – der Beweis, dass die Zukunft des Einzelhandels auch in Giesing angekommen ist. Jetzt heißt die Zukunft des Einzelhandels Amazon und Shopping Mall – und du bist ein Relikt.

Ich sag’s ungern, aber trotzdem: schade. Und gar nicht zähneknirschend: ich werde dich vermissen.



Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

14 Kommentare
Älteste
Neueste
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Lutz
Lutz
13. Juni, 2009 15:08

Das trifft meine Gefühle zu dieser ganzen Karstadt-Misere ganz gut. In Kiel ist Hertie schon vor inzwischen über 10 Jahren in eine Karstadt Filiale umbenannt worden, so dass die Fußgängerzone jetzt von zwei Karstadt-Filialen an den jeweiligen Enden umklammert wird. Immer irgendwie hässlich und spießig und dazu eine mies sortierte Medienabteilung aber trotzdem sehr praktisch. Wie praktisch Karstadt und Hertie sind ist mir erst durch meinen Umzug nach Jena aufgefallen. Hier gibt es nämlich beides nicht. Es ist nicht so, dass man die Sachen dadurch hier nicht bekommt, aber einen Laden mit eben dieser Kombination in einem Kaufhaus findet man hier nicht.

Michael
Michael
13. Juni, 2009 15:10

Post vom Wortvogel – als hätte jemand Franz Josef Wagner mit Talent zum Schreiben ausgestattet. Schön geschrieben!

Hat die Silberhorn-Apotheke nicht erst im letzten Jahr eröffnet? Und schon kommt ein Subway rein? Dann ging die Apotheke ja wirklich schnell den Bach runter.

reptile
reptile
13. Juni, 2009 15:17

Genau! An "Post von Wagner" musste ich auch denken

milan8888
milan8888
13. Juni, 2009 17:28

Der Donatos-Filiale hab ich wirklich hinterhergetrauert.

Beim "Hertie" (für mich immer noch Karstadt) ist es eigentlich nur um die Fischtheke schade. Es gab halt von fast allem irgendwas, aber irgendwie nie das was man grad gebraucht hat.

GrinsiKleinPo
GrinsiKleinPo
13. Juni, 2009 18:44

Ich habe diesen Betonklötzen, diesen Hochbunkern des Konsums nie etwas abgewinnen können. Man nennt sie Tempel oder Kathedralen des Konsums, für mich waren es Kriegsschauplätze mit schlechter Luft und unübersichtlichen Auslagen. Dieser Eindruck mag auf traumatische Erlebnisse in meiner Kindheit an der Hand meiner Mutter zurück z uführen sein. Sommer- und Winterschlußverkauft waren immer Großkampftage in der Hamberger Innenstadt.
Ich bin nie mit diesen zu jeder Jahreszeit ungastlichen Dingern klargekommen. Mir waren die kleinen Läden immer irgendwie lieber. Dort konnte man sich nicht umsehen, ohne sich gleich verloren vorzukommen.

Eine Ära des Konsums geht zu Ende, eine neue wird kommen. Der Mensch ist Gewöhnungstier, so wird er sich auch an eine Male gewöhnen müssen. Auch das wird zu Ende gehen.

So lange das KdW geöffnet ist, wird man sich daran erinnern können, wie es war, damals im Zeitalter der Konsumtempel.

milan8888
milan8888
13. Juni, 2009 18:59

Der Giesinger Karstadt besteht aus Erdgeschoss (Bekleidung, Uhren, Spielzeug, DVDs, Regenschirme, Deosprays) und Keller (Lebensmittel, Haushaltswaren und Bilderrahmen/Poesiealben) – also mitnichten ein Hochbunker des Konsums 😉

PabloD
PabloD
13. Juni, 2009 20:08

Mal als Gegenbeispiel das schönste Karstadt/Hertie-Kaufhaus, in dem ich je gewesen bin: http://tinyurl.com/n2guoj
Keine Rolltreppen, Lichtdurchflutung über drei Etagen und viele kleine Designdetails zu entdecken. Herrlich.

MILE
13. Juni, 2009 23:25

Naja, aber da kommt doch garantiert wieder ein Ladengeschäft rein, oder…?! Ich kann mich noch daran erinnern, als der Klotz noch "kepa" hieß — lang, lang ist’s her — und dann ein Karstadt daraus wurde und dann ein Hertie…

Und wer sagt denn, dass es nicht vielleicht sogar eine Verbesserung wird…?! 🙂

GrinsiKleinPo
GrinsiKleinPo
14. Juni, 2009 10:04

Danke PabloD, das nenne ich einen Tempel des Konsums. Ich mag Jugendstilbauten, denn das Auge kauft mit.

@milan8888: Siehe Foto, Quadratisch/rechteckig), Würfelförmig und von aussen einfach nur hässlich. Ich nenne sowas einen Hochbunker, da er nichts von einer Einladung hat.

Peroy
Peroy
16. Juni, 2009 19:38

"Ich habe diesen Betonklötzen, diesen Hochbunkern des Konsums nie etwas abgewinnen können. Man nennt sie Tempel oder Kathedralen des Konsums, für mich waren es Kriegsschauplätze mit schlechter Luft und unübersichtlichen Auslagen."

Gott, der Mann ist so anti…

Julian
19. Juni, 2009 22:11

Mir tut das alles nicht so irre weh. Das mag daran liegen, dass ich im Januar eine Ski-Unterhose "für drunter" beim Rodeln im Karstadt (ehem. original-Hertie) kaufen wollte. Die wollten doch glatt 45 Euro! Für eine lange Unterhose!

Fassungslos ging ich und kam nicht wieder. Nie mehr, wie’s aussieht.

Wenn ein Unternehmen derart realitätsfremd agiert, ist der Absturz doch vorprogrammiert, denke ich mir.

Abgesehen davon sind die meisten dieser ganzen Kaufhäuser tatsächlich architektonische Todsünden, geboren im Fiebertraum eines nach Modernität ringenden Nachkriegsdeutschlands. Katastrophe.

JonasD
21. Juni, 2009 23:38

Ich meine auch, dass sich die Kaufhaus-Idee länst überholt hat. Lieber ein paar Einzelläden.
Aber wenn hier in der TeLa NOCH ein Frisör, Kebapladen oder Optiker aufmacht, krieg ich einen offiziellen Schreikrampf!

milan8888
milan8888
22. Juni, 2009 02:31

Ne neue Apotheke wär doch was feines 😉

Wortvogel
Wortvogel
22. Juni, 2009 10:28

@ Milan: Immerhin bekommen wir in den Räumlichkeiten der alten Silberhorn-Apotheke nun endlich ein Giesinger "Subway". Der Gedanke macht mich jubeln 🙁