16
Feb 2009

Der Max Friedmann, den ich kannte…

Themen: Neues |

friedmann

Ich war ein Anfänger, ein Fanboy, ein Greenhorn, als ich im Herbst 1990 beim GONG in München anfing. Ich war nicht in der TV-Branche aufgewachsen, wie so viele andere Redakteure, sondern hatte sie nur von kleinauf begeistert mitverfolgt (peinlicherweise über das Konkurrenzprodukt HÖRZU).

Meine Aufgabe beim GONG war es zu Anfang, die Programmspalten von SAT.1 in den Computer zu tippen, und diese mit Zusatzinformationen zu versehen – Bilder, Kritiken, Wiederholungsdaten. Eine Besonderheit des GONG war es zudem, bei Schauspielern die jeweiligen Todesjahre (“Curd Jürgens (+1982)”) anzugeben, und etwaige Serienverweise (“David Janssen (bek. aus “Dr. Kimble auf der Flucht”)”).

Nach fünf Jahren beim GONG konnte ich die Todesdaten und Serienverweise zu 99 Prozent aus dem Kopf, aber zuerst hieß es dazu immer: “Ab ins Text-Archiv”. Internet, IMDB und anderen neumodischen Kram gab es ja noch nicht. Das Text-Archiv war ein kleines Büro mit wandhohen Regalen, in denen sich hunderte von Filmbüchern stapelten. Dazu gab es Karteikästen mit maschinengetippten gelben Kärtchen, die alle relevanten Todesdaten enthielten. Ein morbides, aber effektives System.

Max Friedmann war der Archivar des GONG, ein kleiner alter Mann weit jenseits der Pensionsgrenze. Es ging das Gerücht, dass man ihn nicht entlassen könne, weil er sich zeitlebens keine Pensionsansprüche erarbeitet hatte. Wirklich unersetzbar war er nicht: die meisten Redakteure konnten durchaus selber in den Filmlexika nachschlagen. Und für die Totenkartei hätte eine Aushilfe gereicht.

Aber Max Friedmann war ein Original, und als solches ein unverzichtbarer Bestandteil der dysfunktionalen, aber liebenswerten GONG-Familie. Die Haare ließ er sich grundsätzlich nur einmal im Jahr schneiden, und zwar kurz vor der Weihnachtsfeier. Seine schnarrende, immer gleich aufbrausende Stimme im Ranicki-Sound schreckte viele Redakteure ab, aber ich liebte die renitente Art von Max Friedmann, wirklich JEDER Aussage erstmal entschieden entgegen zu treten.

Ich: “Schönes Wetter heute, Herr Friedmann.”

Er: “Das STIMMT doch gar nicht, was Sie da sagen!”

Die Ursache seiner Widerborstigkeit war leicht zu erkennen: er wollte reden, wollte nicht einfach an seinem Schreibtisch hocken, während die Redakteure sich stumm an seinem Bücherregal bedienten. Es war ihm ein Anliegen, Schwätzchen zu halten, Anekdoten zu erzählen. Er hatte schließlich genug Leben hinter sich, aus dem es zu berichten gab.

friedmann2 Max Friedmann erzählte viel, aber nicht viel über sich. Er war Jude, homosexuell, und war von den Nazis im Dritten Reich in ein Lager gesteckt worden. Nach dem Krieg hatte er in der Filmbranche gearbeitet – sein größter Erfolg war die Regie bei dem Curd Jürgens-Film “Begegnung in Salzburg”. Als “Opas Kino” unterging, ging er mit, und landete dann irgendwann beim GONG.

Ich weiß nicht viel über Max Friedmann. Aber ich weiß viel von ihm. Wie viele Viertelstunden wir gesessen haben in Häppchendiskussion über Filmkultur vertieft, ich kann es gar nicht mehr sagen. Natürlich hatte Friedmann immer Recht, denn ich war ein rotznäsiger Jungspund, der das alles ja nicht erlebt, sondern nur nachgelesen hatte. Max Friedmann wußte alles, und vor allem alles besser. Und ich hörte ihm zu. So lernte ich z.B. die hübsche Unterscheidung, die er zwischen “Farbfilm” und “Buntfilm” machte. In seinen Augen hatte der Schwarzweiß-Film eine ganz eigene Helligkeits-Choreographie gehabt, die bei der Einführung des Farbfilms keine konsequente Fortsetzung fand. Farbe wird meistens gedankenlos eingesetzt, als bloße Wiedergabe der Dinge vor der Kamera. “Sowas ist bunt, aber nicht farbig, denn es ist nicht durchdacht”, knurrte Friedmann gerne.

Natürlich nervte Friedmann manchmal auch, besonders wenn man es eilig hatte. Es war praktisch unmöglich, seinem Mitteilungsdrang zu entkommen, und viele Kolleginnen waren von seiner groben Art abgestoßen. Doch für mich kann ich sagen, dass die Gespräche mit ihm, dem echten Urgestein des deutschen Nachkriegsfilms, mein Verständnis und meine Bewunderung für die Kinokultur geprägt haben. Ich habe sehr viel von ihm gelernt.

Ich verließ den GONG 1995. Friedmann wurde ein paar Jahre später entlassen. Das machte mir Sorgen, denn ich war überzeugt, dass der alte Runzelzwerg ohne den Rückhalt seiner Arbeit nicht lange durchhalten würde. Doch einige Redakteure, die losen Kontakt zu ihm hielten, beruhigten mich: Friedmann kam als Pensionär sehr gut klar, ging viel raus, traf sich mit Freunden zum Essen. Er schien unverwüstlich.

Mehr als zehn Jahre sind seither vergangen. Der GONG ist von Schwabing in einen Mediapark außerhalb Münchens umgezogen, das Archiv wurde entsorgt, und Todesdaten werden aus Platzgründen nicht mehr abgedruckt.  Es arbeiten noch viele fleißige und talentierte Kollegen dort – aber keine Legenden mehr.

Im Dezember 2008 habe ich erstmals seit 14 Jahren wieder an einer Weihnachtsfeier des GONG teilgenommen. Irgendwann fragte ich meinen Ex-Kollegen Karlheinz, wie es Max Friedmann ginge. Er legte den Kopf schräg: “Nicht so gut. Er wird halt doch langsam tatterig”.

“Langsam tatterig” – mit 95 Jahren!

Eben fuhr ich zu meinem ehemaligen Chefredakteur ins Büro. Er kam gerade von einer Beerdigung.

Max Friedmanns Beerdigung.

Zeit für eine allerletzte Karteikarte, wie es scheint:

friedmann3



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Tinitus
Tinitus
16. Februar, 2009 17:18

Schöner Text Torsten. Und das mit der Karteikarte hat echt Stil.

DerTim
16. Februar, 2009 17:38

Es mag morbide klingen, aber ich mag solche Geschichten. Ein wirklich schöner Nachruf.

HerrJeh
HerrJeh
16. Februar, 2009 18:16

hui. respekt, herr dewi. und danke.

Dr. Acula
16. Februar, 2009 18:29

Faszinierende Biographie, quasi der umgekehrte Tarantino – vom Regisseur zum Karteikartenverwalter…

Da gehen sie hin, die Originale.

Schöner Text.

Lukas
16. Februar, 2009 18:53

Wirklich schön geschrieben!

Jack Crow
Jack Crow
16. Februar, 2009 19:50

“Klickbefehl” indeed…

Dieter
Dieter
16. Februar, 2009 22:52

Bewegend schön geschrieben.

Julian
17. Februar, 2009 01:47

Mein Beileid.

General Failure
General Failure
17. Februar, 2009 09:08

Ein sehr schön geschriebener Text.
Es ist tragisch, wenn man bedenkt, was alles mit einem solchen Menschen verloren geht. Seine Geschichten und sein Wissen hat er mit genommen.
Der Nachruf ist wirklich passend und ich denke es könnte kein besserer gefunden werden.

aljas
17. Februar, 2009 09:24

Danke für diesen wunderbaren Text über diesen interessanten Mann. Mir gefällt Friedmanns Unterscheidung zwischen Farb- und Buntfilm. Da steckt viel Wahres drin und offenbart ein tiefes Interesse für das Medium, das zu vielen Regisseuren abgeht.

mitdete
mitdete
17. Februar, 2009 09:36

War gestern auf der Beerdigung mit anderen Wegbegleitern und habe bewegt Deinen Nachruf gelesen. Jedes Wort wahr.

tok
tok
17. Februar, 2009 11:41

Bewegend. Danke.

Ingmar Thilo
17. Februar, 2009 12:59

Wir nannten Max Friedmann unseren “Jüngsten”. Und das war nicht vor Deiner wunderbaren Erinnerung an den “kleinen alten Mann”, sondern danach. Wir lernten ihn im Theater kennen und holten ihn vom Fleck weg in das Münchner Galerie Theater. Dort spielte er den Dichter in Faust I, Thales und Lynkeus in Faust II, den Richter in Ingeborg Bachmanns “Der gute Gott von Manhattan” und probte den Sen in Brechts Turandot bis er drei Tage vor der Premiere ausstieg. Er reiste mit dem Theater nach Augsburg, Ulm, Essen, Berlin und auf das Theaterfestival nach Avignon. “Ist doch schön!” rief er mit seiner sonoren, weittragenden Theaterstimme und hob sein geliebtes Rotweinglas. Wenn wundert es, dass Max Friedmann auch vor unser aller Zeit mit weiteren Leben aufwarten kann: Schauspieler und Dramaturg im Zürcher Schauspielhaus in der legendären Emigrantenzeit. Dann Schauspieler und Dramaturg in der Scala in Wien, wo er nach dem Krieg gegen alle Widerstände eine Brechtinszenierung durchsetzte. Aber genug davon … da sollte sich doch lieber ein Langhoff, ein Paryla, oder wer auch immer Nachfolger seiner zahlreichen Theaterbekanntschaften ist, zu einem weiteren Kommentar ermuntern lassen.

Die URL zeigt Max Friedmann als Thales und Lynkeus im Faust II.

Elisabeth
Elisabeth
27. Juni, 2010 20:04

Mach ein Buch über die “Gescheiterten” – ich bin dabei. Elisabeth

Ingmar Thilo
28. Juni, 2010 11:17

“Mach ein Buch über die “Gescheiterten” – ich bin dabei. Elisabeth”

Ich auch!
Ingmar Thilo