26
Jan 2009

“Deer Lucy” bei BILD: Web-TV mau mau (Nachtrag auf Hinweis von BILD)

Themen: Film, TV & Presse, Neues |

deerlucyUmtriebig sind sie bei BILD, was das Internet angeht, das muss man den Verantwortlichen bei Deutschlands größter Boulevardzeitung lassen. Nach ein paar Jahren Lethargie im Netz, als die Webseite praktisch 1:1 der gedruckten Ausgabe entsprach, müht man sich redlich, den Konsumenten mit Schnickschnack zu erschlagen: Handwerker-Börse, Schnitten-TV, Handy-Reporter, “Volks”-Produkte, Promi-Videoblogger, Mini-Reportagen. Und was nicht sofort greift, wird auch ratzfatz wieder dicht gemacht.

Natürlich ist bei BILD immer alles “neu”, “exklusiv”, und “einmalig”. So wie heute die erste Episode von “Deer Lucy”, eine Art Web-Variante meiner Telenovela “Lotta in Love”, allerdings in iPhone-tauglichen 5 Minuten-Häppchen, zweimal die Woche.

Ist “Deer Lucy” (nettes Wortspiel, dürfte an der Zielgruppe wohl geradewegs vorbeigehen) “die 1. Web-TV-Serie”? Selbstverständlich nicht. Auch nicht die zweite, zehnte, oder hundertste. Schon im ersten New Economy-Boom in den 90ern lag die Idee auf der Hand (ich erinnere mich gerne an die Vampir-Serie “New Blood” in pixeliger Briefmarken-Grafik), und das Thema boomt seit zwei, drei Jahren wieder, als gäbe es einen Preis für Geldverschwendung zu gewinnen: “Sanctuary”, “Star-Ving”, “The Bu”, etc..

Auch die Produktionsfirma MME hätte BILD freundlich darauf hinweisen können, dass das Krönchen der ersten deutschen, professionell produzierten Web-TV-Serie der letzten Jahre dann doch eher “They call us Candygirls” zusteht, der Nightclub-Soap von MySpace. Die kommt nämlich auch von MME.

“Exklusiv” ist “Deer Lucy” bei BILD aber, das stimmt – weil BILD die Serie ja auch bezahlt. Ich bin nicht sicher, ob der Begriff der Exklusivität für sowas vorgesehen ist. Und ob es ratsam ist, die Inhalte eben nicht freizugeben, damit User sie in ihre Blogs einbinden können, darf diskutiert werden. Statt das Produkt zum User zu bringen, verlangt BILD vom User, zur Webseite zu kommen. Das hat sich in der Vergangenheit nicht bewährt.

Es wäre auch nicht BILD, wenn man die Details hinbekäme:

graz1graz2Alles viel Drumherum-Gerede, und wir sind noch nicht einmal bei der ersten Folge angekommen. Wenden wir uns also von der Form ab, und dem Inhalt zu.

Vorab: so unerträglich pseudo-hip wie das Schnepfen-Ghetto “Candygirls” (von dem scheinbar keine neuen Folgen produziert werden), ist “Deer Lucy” nicht. Die neue Serie verlangt nicht von uns, hohlen geilen Luxus-Tussen dabei zuzusehen, wie sie jedes Klischee der Klatschpresse durchleben. Es gibt tatsächlich sowas wie eine Hauptfigur, und eine grobe Story.

“Deer Lucy” handelt vom Provinz-Girl Lucy, das nach Berlin zieht, um als Talent-Scout bei der Plattenfirma “Deer Records” anzufangen (später wird dann voraussichtlich ihr eigenes musikalisches Talent entdeckt). In der Pilotepisode schafft sie es immerhin aus dem Reisebus in die U-Bahn-Station, und dann auf einen Parkplatz. Für mehr reichen die fünf Minuten nicht.

Technisch ist die Serie ziemlich gut gemacht: Die Nachtszenen sind gut ausgeleuchtet, die Kameraarbeit ist flott, der Schnitt auch, und in den ein, zwei Sätzen, die jede Figur aufsagen darf, offenbart sich auch kein schauspielerisches Debakel. Graziella Schazad ist allemal sympathischer als die “kuhäugigen Blondinen” (SPIEGEL), die sonst Telenovelas bevölkern.

Und doch: So richtig Freude will nicht aufkommen. Vielleicht bin ich einfach zu weit von der Zielgruppe entfernt (ich habe einen Penis, und darf legal Alkohol trinken). “Deer Lucy” versucht eine klassische TV-Dramaturgie ins Häppchen-Format runterzubrechen, statt für das Web eine neue Erzählstruktur zu finden. Selbst stille Szenen wirken gehetzt, es gibt keine Durchatmer, keinen Spielraum für Details. Jeder Satz zählt, jeder Komparse treibt die Handlung, alle Figuren werden ständig durch unglaubliche Zufälle aufeinander getrieben. Diese geschlossene Welt, die keinen Abstand zwischen Personen und Ereignissen kennt, wirkt hilflos überkonstruiert, und bedient sich dann schnell aller Klischees der Metropole Berlin: hier sind halt alle irgendwie kreativ, independent, und total crazy, weißt du?

Reflektion, Abwägung, Zweifel, Zögern, Entscheidung? Keine Zeit, keine Zeit, keine Zeit! Bevor man in einer Folge drin ist, ist man auch schon wieder draußen. “Berlin, Berlin” für hyperaktive Nachtschwärmer.

So finde ich es sehr schwer, Sympathie für Lucy zu entwickeln, oder mich um sie zu sorgen – ein elementares Dilemma hat sie ja nicht. Das mögen Big Brother- und Anime-gestählte SMS-Dauerversender anders sehen, die haben vielleicht andere Ansprüche, oder simplere Möglichkeiten zur Identifikation. Vielleicht braucht es aber auch ein paar Episoden, bis man sich “eingesehen” hat.

Ist das die neue Web-TV-Welt? Komprimierte Minisoden im Trailer-Stil, permanenter Köder, Bruzzeln ohne Steak?

Kurios genug, dass der Trailer der Trailer-Telenovela sympathischer und ausgeglichener wirkt als das Endprodukt – auch wenn einige der Dialogzeilen böse knarzen:

http://www.youtube.com/watch?v=jvFdWZqIYlE

Ich verkneife mir vorerst ein endültiges Urteil, werde noch drei, vier Folgen ansehen, und mich dann wieder melden. Bis dahin heißt es: Der Versuch ehrt, und nur Versuch macht kluch…

NACHTRAG: Aus dem BILD-Umfeld kam die Bitte, darauf hinzuweisen, dass “Deer Lucy” sehr wohl auf eigenen Blogs und Webseiten eingebunden werden kann – zwar nicht so komfortabel wie bei YouTube, aber immerhin. I stand corrected.



Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

24 Kommentare
Älteste
Neueste
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Manuel
26. Januar, 2009 14:22

Ich würde auch gerne nach Berlin gehen, um als Talent-Scout zu arbeiten. Aber gibt es so etwas überhaupt noch?

Stephan
Stephan
26. Januar, 2009 14:33

@Manuel
“Talent-Scout” ist eine ähnlich sinnvolle Berufsbezeichnung wie “Unternehmensberater”. Druck Dir Visitenkarten und Du bist dabei!

Max
Max
26. Januar, 2009 16:37

Hi Oliver,
kann Dir in großen Teil recht geben.

“Deer Lucy” ist anständig produziert. Die Einstellungsgrößen sind WebTV gerecht gewählt, die Dialoge und Schnitte nicht zu lang, die Ausleuchtung super für WebTV gelungen.
Graziella Schazad kann ich noch nicht genau einschätzen. Ich finde es gut, dass hier kein Klischee Cast eingesetzt wurde, sondern bewusst etwas mehr Farbe in die Telenovela-Prinzessin kommt.

Der Story mutet allerdings abgedroschen und wenig vielversprechend an. Wollen wir wirklich die 100ste Variante davon sehen? Will die Zielgruppe das? Ich bin mir nicht sicher.

Es ist schwierig einen Piloten für eine Telenovela zu machen, noch schwieriger ist es für eine WebTV Telenovela. Trotzdem hätte ich gern hier die Probleme auf dem Tisch gehabt. Man hätte doch auch die “Unschuld vom Lande fährt nach Berlin”-Szene später unterbringen können. Gefiel mir vom Buch nicht – für das Web müsste es so konzipiert sein: Konflikt zuerst – Auflösung/Erklärung später. Auch der Cliffhanger ist schwach für eine erste Folge.

Der Trailer ist im Vergleich zur ersten Folge allerdings dann wieder sehr ansehnlich und macht Lust auf mehr. Das Setting ist gut gewählt und vom Ersteindruck stimmt der Cast auch (Besonders Milton Welsh in der Telefonszene gefällt mir gut!).

Aber Du hast Recht, kein zu schnelles Urteil bilden sondern erstmal abwarten.. Ich würde mir wünschen, dass die Klickzahlen stimmen, die Finanzierung ist durch die Textilanpreisungen ja schon gesichert..

Grüße
Max

Wortvogel
Wortvogel
26. Januar, 2009 16:40

Who the fuck is Oliver?

Max
Max
26. Januar, 2009 16:44

Das ist eine gute Frage. Es tut mir Leid, Torsten!
Damn.. Ich brauch Kaffee.

Wortvogel
Wortvogel
26. Januar, 2009 16:56

🙂

Ben
Ben
26. Januar, 2009 16:59

Es heißt Reflexion.. 😉

Lari
Lari
26. Januar, 2009 16:59

BILD muss zwangsläufig auf Web-Inhalte ausweichen, weil die Auflage seit Jahren linear abschmiert. Die Serie allerdings klingt furchtbar – Wer sieht sich denn solche Story-Bröckchen an? Man hätte doch problemlos die Laufzeit je Episode verdoppeln können, da die Serie ja ohnehin nur für die Website und nicht für portable Player gemacht ist, bei denen größere Videos ja durchaus Speicherplatz fressen.

“das Schnepfen-Ghetto “Candygirls” (von dem scheinbar keine neuen Folgen produziert werden)”

Das müsste streng genommen “anscheinend” heißen. 😉

Tornhill
26. Januar, 2009 17:42

Von dererlei hab ich auch schon gehört.
Ich bin ja eigentlich ein absoluter Fan von neuen Formaten und Ideen und meine, dass man mal alles ausprobieren sollte, aber…ich kann mir eine funktionierende Dramaserie in so kleinen Happen irgendwie nicht wirklich vorstellen.
Hätte man ein Action/SF-Setting genommen und würde die Hauptfiguren einfach im Stil der alten Zeitungsstrips mit immer neuen Gefahren bombardieren…kein Prolem! Aber komplexere zwischenmenschliche und emotionale Konflikte…ich weeeeiß nicht…

Noch extremer sind dann wohl die “SMS-Romane” die anscheinend in Japan unterwegs sind.

Reptile
Reptile
26. Januar, 2009 18:56

Ich könnte mir als eine Web Serie so was wie
“In Treatment vorstellen. Die ist ja für eine TV Serie schon total komprimiert aber ich finde die super und hochwertig. Allerdingst wäre dafür wohl eventuell nicht die richtige Zielgruppe da.

OnkelFilmi
26. Januar, 2009 20:29

“In Treatment” ist mitnichten komprimiert. Jede Folge hat nämlich exakt die Dauer einer therapeutischen Sitzung…

Reptile
Reptile
26. Januar, 2009 21:52

Ich meinte mit komprimiert mehr die Machart. Nur eine Location, fast immer nur 2 Darsteller, keine Action sondern geniale, tiefgründige Dialoge. In jeder Folge sehen wir einfach 2 Menschen beim reden zu und das teilweise sogar nur 25 Minuten. Trotzdem schaft die Serie es ein sehr intensives Bild der verschiedensten Charakte zu zeichnen und als Dramaserie zu funktionieren.
Sowas würde vielleicht auch als reine Web Serie funktionieren.

Wortvogel
Wortvogel
26. Januar, 2009 21:57

Das gab es auch als Comedy schon: “Head Case” – erst in fünfminütigen Episoden, für Staffel 2 in normaler Sitcom-Länge. SEHR schön schräg…

milhouse
milhouse
27. Januar, 2009 02:33

Mir als “Innere Logik”-Hansel gehen natürlich die sehr zahlreichen Zufälle binnen weniger Minuten auf den Senkel, wobei ich zugeben muss, dass ich mich bei einem “Landei kommt nach Berlin”-Projekt auch mal hab überreden lassen, die Hauptdarsteller in den ersten Sekunden zufälig zusammenprallen zu lassen. Geht wohl nicht anders.

Also lass ich das mal gelten. Aber warum zur Hölle geht Lucy erst nach unten in die U-Bahn, wenn sie kurz darauf ohne Verwunderung in das Auto ihrer Freundin einsteigt, die ja offensichtlich gekommen ist, sie abzuholen? Sowas nervt.

Look, Schauspieler und Musik sind für WebTV gut, ersteres und letzteres sogar sehr, wie ich finde. Und der Plattenboss wirkt im Trailer auch schon mal vielversprechend.

Dass Erzähltempo ist allerdings zermürbend und lässt mich eher skeptisch werden, aber für mich gilt die selbe Zielgruppenproblematik.

Eine sehr sehr schöne Therapie-“Webcom” ist “Web Therapy” mit Lisa Kudrow, leider etwas nervig anzusteuern unter
http://lstudio.lexus.com/#vid1212
aber es lohnt sich!

Dieter
Dieter
27. Januar, 2009 07:44

Bei Daily-Soaps ärgern mich immer die hölzern vorgetragenen Sätze, die mich an das Vorlesen in der Schulzeit erinnern. Das ist hier aber nicht so, und ich bin überrascht! Graziella Schazad scheint ganz ordentlich zu spielen; es sieht bei den kurzen Schnipseln jedenfalls gut aus. Insgesamt sieht der Trailer besser aus, als so manche Fernseh-Soap.

Proesterchen
Proesterchen
29. Januar, 2009 14:59

Lässt die Kleinkind-zum-Einschlafen-vorlesen-Stimme auf das geistige Alter der Hauptfigur, oder doch eher die Zielgruppe schließen?

Wortvogel
Wortvogel
29. Januar, 2009 15:07

Zumindest war die zweite Episode nicht besser: erklärt wird nichts, Emotionen werden in den Voiceover geschaufelt, Lucy verhält sich irrational (wieso ist sie SAUER, weil jemand ihren Gesang gehört hat?), und rein vom Storyverlauf schafft sie es von zuhause bis zur Arbeit – aber immer noch nicht an den Arbeitsplatz. In der Erzählgeschwindigkeit hat Lucy an ihrem Schreibtisch gerade mal den Bildschirmschoner eingestellt, und die Serie ist zu Ende.

Wortvogel
Wortvogel
29. Januar, 2009 16:15

Erstaunlich genug – BILD online selbst zitiert den Wortvogel: http://bit.ly/FvWM

Asmodeus
Asmodeus
29. Januar, 2009 20:16

„Sehr professionell in Szene gesetzt und auch die Schauspieler machen eine wesentlich bessere Figur als bei der MySpace-Websoap.“
Selbst der bissige „Wortvogel“ will die nächsten Folgen sehen, denn: „So unerträglich pseudo-hip wie das Schnepfen-Ghetto „Candygirls” ist „Deer Lucy” nicht.“

So schreibt es die BILD.

Wenn ich mir aber die Seite hier komplett durchlese scheint mir das ziemlich aus dem Kontext gerissen.

Ich bin der Meinung: Wenn man nur genug Werbung macht und oft genug schreibt “Alle lieben Lucy” dann MUSS es quasi so geschehen.

Mit Qualität hat das aber noch lange nichts zu tun.

Gruß

Wortvogel
Wortvogel
29. Januar, 2009 20:25

@ Asmodeus: Nein – das Publikum frisst noch lange nicht alles, nur weil man es ihm mit genügend PR-Geld einredet.

Ja, BILD hat meinen Beitrag auf die positiven Aspekte verkürzt. Das kann man fragwürdig finden, falsch ist es nicht. Die von mir zitierten Aussagen habe ich ja gemacht, und sie stimmen auch in der verkürzten Form. Ich mache das BILD nicht zum Vorwurf.

Man kann natürlich diskutieren, ob es legitim ist, mir zu unterstellen, ich WOLLE die nächsten Folgen sehen, obwohl ich nur gesagt habe, dass ich die nächsten Folgen sehen WERDE, um mir ein Urteil zu bilden. Aber das ist Kleinkram.

Da “Deer Lucy” sowieso nur auf 20 Folgen angelegt ist, nehme ich das sportlich.

Asmodeus
Asmodeus
29. Januar, 2009 20:29

Gut, schauen wir alle Folgen und sagen wir hinterher dass wir es nicht wollten, aber getan haben um zu sehen ob die Serie gut ist. 😀

Naja, ich gehöre eher zu der Sorte die auf extreme Werbung schlagartig mit Ablehnung reagiert. Also musst du wohl weiter berichten wie es war 😉

kudzuman
kudzuman
15. Februar, 2009 00:27

Ich find’s ja erstaunlich, dass die Zielgruppe sich immer wieder das gleiche Muster “Landei oder sonstwie angeblich Benachteiligte kommt in hippe Stadt/hippes Umfeld und blüht wächst und gedeiht total unrealistisch” verkaufen lassen. Bei Lolle, bei dem “schüchternsten Mädchen der Welt” (oh, wie ich die schnell mal vergebenen Privatsender-Superlative hasse)…neben der Aufmerksamkeitsspanne wird wohl auch die Erinnerung bei der Zielgruppe als eher mau angesehen. :-!

peter
peter
2. April, 2009 17:25

so jetze bin ich gespann!

OnkelFilmi
12. Mai, 2010 18:08

Ha! Die Spam-Protection hat versagt!