12
Jun 2008

Vom Ich zur Ich-AG zur iCompany

Themen: Neues |

Es wird viel vom Eigenverantwortung gesprochen in der Politik – zumeist dann, wenn der Staat beabsichtigt, eine Leistung, für die wir Steuern zahlen, nicht mehr zu erbringen. Schon kurios: Wir zahlen in die Arbeitslosen- und Rentenversicherung, in die Krankenkasse, und Steuern gehen ab für Schulen, Straßen, und Behörden. Trotzdem sollen wir für den Fall der Fälle mittlerweile lieber selber vorsorgen, die Schulbücher der Kinder und deren Mittagessen bezahlen, und künftig Maut und Info-Gebühren beim Amt berappen. Was ist mit dem Geld, das wir eigentlich für diese Dinge abgeliefert haben? Hhhmmm…

Aber egal, das soll heute nur am Rande Thema sein. Mir ist in der Diskussion um die Eigenverantwortlichkeit der Arbeitssuchenden nur kürzlich aufgefallen, wie sehr sich die Zeiten geändert haben. Meine Mutter, mittlerweile auch verrentet, gehört vermutlich zur letzten Generation, die eine realistische Chance hatte, bei der Firma, bei der sie ihre Ausbildung gemacht hatte, auch das gesamte Berufsleben lang zu bleiben. Und sie gehört zur letzten Generation, die in der Ausbildung so ziemlich alles gelernt hat, was sie für 40 Jahre Berufsleben brauchte. Von ein paar neuen Produkten (in ihrem Fall Taschenrechner und Filofax) mal abgesehen. Als sie in den Beruf einstieg, gab es hier „Vollbeschäftigung“ (na, das müsste sich doch im „Lexikon der aussterbenden Wörter“ finden lassen), und zwischen denen „da oben“ und denen „da unten“ bestand ein Unterschied in der Lebensqualität, nicht aber im generellen Lebensverständnis.

Ähnlich meine Tante: Sie ging vor ein paar Jahren in Rente – zusammen mit dem Notar, dem sie über 40 Jahre lang das Sekretariat gemacht hatte.

Heute ist das anders. Mobilität wird nicht honoriert, sondern verlangt, und selbst als Tankwart muss man halbwegs einen PC bedienen können. Man hat nicht mehr auszulernen, sondern muss sich ständig weiterbilden. Je mehr man beim Bewerbungsbogen unter „besondere Fähigkeiten“ eintragen kann, desto besser – warum es einem Bademeister allerdings was bringen sollte, wenn er Heimnetzwerke installieren kann, bleibt mir verschlossen.

Wie auch immer – der Arbeiter von heute steht also per se unter deutlich größerem Druck als die Vorgänger-Generationen: Angst vor Jobverlust und Abrutsch ins Prekariat, ständige Möglichkeit von erzwungenem Berufs- und Wohnungswechsel, und permanent die Forderung, abends nicht die Sportschau zu gucken, sondern in die Volkshochschule zu gehen. Geistige Rührigkeit wird zur Bürgerpflicht, dumpfes Dahinleben ist nicht akzeptabel!

Und wenn man dann einen Job hat, ist es ja nicht damit getan, ein frisches Hemd zu tragen, und geputzte Schuhe: Dresscodes allerorten, und wer mit der Zeit geht, um nicht mit derselben überflüssig zu werden, achtet auf Statussymbole, Power-Speak und die richtige Automarke. Befördert werden Macher, nicht Malocher.

Wer heute nicht zur iGesellschaft gehört, kann sich eh gleich abmelden – Email-Adresse ist Muss, Webseite zumindest normal, unter 25 geht auch noch MySpace oder Simpel-Blog durch. So etwas gehört auf die Visitenkarte, man hat schließlich was zu verkaufen. Sich selbst. In den entsprechenden Online-Angeboten bietet man seine Arbeitskraft so frei feil, dass der alte Marx ganz feucht im Schritt geworden wäre – endlich hat der Arbeiter die unbeschränkte Macht über seine Produktivkraft! Das Proletariat emanzipiert sich, wird zum Job-Nomaden, ruhelos und mysteriös.

Wer da nicht mitkommt, ist schlicht und ergreifend aus dem Rennen. Heute im Berufsleben zu stehen, ist mit ungleich größerem Aufwand verbunden als früher. Dranbleiben heißt die Devise, weiterbilden, sich in Form halten, immer up to date, permanent runderneuert. Man muss vom Lohn nicht nur den Lebensunterhalt bezahlen, sondern auch die Vermarktung der eigenen Person – Webspace ist da noch der kleinste Anteil.

Die postindustrielle, mobile Gesellschaft verlangt mehr als den Arbeiter – sie verlangt die iCompany. Jeder ist sein eigener Image-Berater, PR-Mann, Pressesprecher, und Headhunter. Ich bin mein Produkt, ich stelle mich her, ich verbessere mich laufend, ich biete mich an, ich werbe für mich, ich überzeuge in eigener Sache.

In fast allen Branchen kann man erleben, wie die redegewandten Quereinsteiger das Rennen machen – die, die gut daherreden können, die mit Keramikkronen und Buzz-Words die Chefs und die Banken überzeugen. Ausbildung? Altmodisch. Berufserfahrung? Impliziert, dass man alt ist. Die alten Abläufe haben an Wert verloren, der Schein hat das Sein als Qualifikation längst abgehängt. Hier treffen sich Ursache und Wirkung – wer nie lange wo bleibt, muss selten die Folgen seiner Handlungen langfristig rechtfertigen. Maul aufreißen, abzocken, weiterziehen. Die Jungs an der Werkbank dürfen sehen, wo sie bleiben. Dazu kommt die Erosion fast beinahe jedes Berufsbildes – man ist nicht mehr das, was man gelernt hat, sondern das, was man behauptet zu sein. Diplome und Abschlüsse zählen weniger als die Fähigkeit, den Personalchef lässig um den Finger zu wickeln. Wer nix is, kann alles sein.

Was ist mit denen, die da nicht mithalten können? Was ist mit den (vermutlich) Millionen, deren intellektuelle und motorische Fähigkeiten vollkommen ausreichen, um anständig einen Beruf auszuüben, die aber nicht in der Lage sind, smart und eitel am eigenen Image zu arbeiten? Die (vermutlich) Millionen, die zu Recht in Ruhe gelassen werden wollen, wenn sie das Tagwerk geschafft haben? Haben die noch Platz in einer Welt, die Vorwärtsstreben und Statusbewusstsein als Grundvoraussetzung annimmt? Trennen sich hier vielleicht irgendwann die Macher und Malocher in die Zweiklassengesellschaft à la „Metropolis“? Was ist, wenn dem „Einfach-Arbeiter“ in einer durchtechnisierten Berufswelt keine „Einfach-Jobs“ mehr angeboten werden können?

Ich bin selber ein relativ funktionierendes Beispiel einer iCompany. Aber manchmal höre ich die Erzählungen von Onkels und Tanten, und dann kommt so etwas wie Neid in mir auf. Neid auf die Zeit, in der man einen Beruf lernte, die entsprechende Bezeichnung bekam, und dann in diesem Beruf auch arbeitete. Und wenn man zuverlässig war, wurde man auch zuverlässig befördert, bis es am Ende die Torte und die goldene Uhr gab.

Ja, ich weiß – die Welt wird komplizierter. Aber muss mir das gefallen?



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Ghettomaster
12. Juni, 2008 11:32

Wie wahr, wie wahr…. ich möchte mir ehrlichgesagt nicht ausmalen wo uns das alles in den nächsten Jahren noch hinführen wird.

comicfreak
12. Juni, 2008 12:21

..und ich such händeringend Mitarbeiter, die
a) feinmotorisch geschickt sind
b) mit dem Akkuschrauber umgehen können
c) sehen, ob ein Text gerade auf einem Shirt sitzt
d) mit einem Zollstock umgehen können
e) wissen, wie man ein Telefon benutzt
f) unterspülen, nachdem sie auf der Toilette waren
g) mitdenken
h) bezahlbar sind

:headdesk:

Thorsten
12. Juni, 2008 13:07

Da fällt mir spontan Mike Batt ein: “We could be dancing towards desaster…”

Olsen
12. Juni, 2008 13:49

Sehr schöner Beitrag. Und so wahr.

Aber: Vor allem Menschen wie du haben die Möglichkeiten, diese Entwicklung aufzuhalten. Wenn ihr einfach mal sagen würdet, bis hierher und nicht weiter, würde diese ganze Selbstdarstellungsblase früher oder später platzen.

Thomas T.
Thomas T.
12. Juni, 2008 16:00

Völliger Schwachsinn.
Es gibt immer noch zahlreichende Firmen, bei denen man mit einer Lehre anfangen kann und mit 67 / 70 aufhören kann. Wenn man natürlich in einer Großstadt wohnt, dann sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.

Kenne selbst jemanden, die bei einer Lebensmittelkette ohne einen Abschluss genommen wurde und seither mit einem guten Lohn bezahlt wird. Sie ist mehr als glücklich, musste nicht umziehen und hat flexible Arbeitszeiten.

Liebe Grüße

Thomas

Achim
Achim
12. Juni, 2008 19:21

Teilweise kann ich dem zustimmen, teilweise nicht, teilweise lehne ich auch ab, wie es läuft.
Ich finde, der Pfälzer sollte in der Pfalz bleiben, nur dort kann er seinen Dialekt bewahren. Wenn ein paar Leute ihre Heimat verlassen, so ist das gut, das hält die Gene frisch.
Wenn alle unendlich mobil sind, wird die deutsche Sprache zu einem Einheitsbrei, langweilig. Und damit meine ich nichtmal die Sprachverfälschungen der letzten Jahre. In keinem deutschen Dialekt wird Sinn gemacht; wenn man etwas realisiert, dann macht man ein Auto oder einen Film oder …, man begreift es nicht.
Und womit ich konform gehe ist die Aussage, man müsse heute keinen speziellen Beruf mehr lernen. Man muss noch immer was lernen, auch wenn man was anderes macht. Die vielen Physiker, die heute bei SAP Software entwickeln, haben mit Physik heute nicht mehr viel am Hut, aber sie kennen das Prinzip aus ihrem Studium, das Prinzip lässt sich übertragen. Natürlich, man muss sich verkaufen können, um weiter zu kommen, aber ohne etwas gelernt zu haben, geht auch das nicht.

Ich bin jedoch ein Psycho, ich bin aus diesem System ausgeschlossen, mehr als vier Stunden am Tag kann ich, auch wenns mir gut geht, auf Dauer nicht arbeiten, für mich gilt der erste Absatz, für mich wirds auch kaum Leistungen geben. Als Fatalist habe ich dankenswerter Weise die Gabe, das hinzunehmen, sonst wäre ich von morgens bis abends und auch in der Nacht immerzu verzweifelt, das kanns ja auch nicht sein.

HomiSite
12. Juni, 2008 21:22

… oder wo ich nach dem Studium mal stehen werde…

bullion
13. Juni, 2008 10:11

Wunderbar geschrieben. Du solltest dir den Ausdruck iCompany patentieren lassen. Viele dieser ach so lockeren social-whatever-networking-solutions sind sinnlose Zwänge. Ebenso Automarke und Co. Man verliert Persönlichkeit und verkommt zum Produkt. Da muss man aufpassen nicht in der Ramschkiste zu landen.

gnaddrig
gnaddrig
13. Juni, 2008 10:22

Was mich besonders ärgert, ist, dass die Beschleunigung praktisch aller Lebensbereiche, das Kippen vieler eigentlich ganz brauchbarer Abläufe und die Aufweichung so ziemlich aller Werte wie ein Selbstzweck betrieben werden. Oft wird dabei alles Mögliche zerstört, aber es wird nichts Neues dafür aufgebaut. Am Ende stehen immer mehr Leute mit zerrissenen Biographien, entwurzelt durch seitens der Arbeitgeber skrupellos ausgenutzte Bereitschaft zur Mobilität (spätestens den dritten berufsbedingten Umzug innerhalb von ein paar Jahren vertragen die Kinder nicht mehr so gut, Freundschaften lassen sich auch nur sehr bedingt aus der Ferne führen, um nur zwei Aspekte zu nennen), ausgebrannt, weil aller Leerlauf wegrationalisiert und auch noch das letzte Quäntchen Leistungsfähigkeit abgeschöpft wird.

Tanja
Tanja
13. Juni, 2008 15:51

Treffend beschrieben lieber Wortvogel. Ich glaube, dass zwangsläufig irgendwann das alles zusammenbricht. Ich muss da immer an Douglas Adams denken und woher die Menschheit wirklich kommt… :o)))

Willi
13. Juni, 2008 17:00

Nein es muss Dir nicht gefallen!

Wortvogel
Wortvogel
13. Juni, 2008 23:24

@ Thomas T: Wenn es die Firmen gibt, wo man “immer noch” direkt nach der Ausbildung anfangen kann – woher weißt du dann JETZT, dass dort der Job die nächsten 40 Jahre sicher ist? Das scheint mir ein wenig kurz gedacht.

@ alle: Hätte nicht gedacht, dass der Artikel tatsächlich die Gemüter bewegt – hatte ihn seit 18 Monaten auf der Festplatte, und eigentlich nur aus Verlegenheit gepostet. Das freut mich natürlich doppelt – muss ich nicht immer bloß Blockbuster-Kritiken schreiben, um Reaktionen zu bekommen.

Bin wieder da. Genaueres morgen.

Andreas
Andreas
13. Juni, 2008 23:33

Ich habe einen sehr guten Freund, der hat vor ein paar Jahren alles umgekrempelt in seinem Leben.
Er hat eigentlich ziemlich schnell eine beachtliche Laufbahn aufgebaut. Vom Koch gleich nach der Ausbildung zum Küchenschef im Maritim Hotel. Ein Jahr später Eventmanager im gleichen Haus. Plötzlich musste er Leute drücken, Kürzungen durchboxen…er war nicht glücklich, fühlte sich nicht wohl.
Dann der Schnitt. Ganz plötzlich. Er haute ab in eine super keleines Kaff in der Nähe von Frankfurt. In eine Klostergemeintschaft. Dort arbeitet er nun wieder als Koch. Es gibt freie Unterkunft und Kost plus eine kleines “Taschengeld”. Er hat keinen Fernseher es werden aber DVD Abende gemacht. Internet gibt es nur im Büro. Zudem hat er zu “Gott” gefunden.
Unabhängig wie man zu Religion steht glaube ich er hat 100x weniger Stress als die meisten. Und ist auch zufriedener.

Achim
Achim
14. Juni, 2008 13:46

@Wortvogel:
Gut, dass du den Artikel nicht schon von 18 Monaten reingesetzt hast, den hätte ich nie gelesen, da ich nicht gewusst hätte, dass ich danach suchen könnte!
Ich lese zwar vielleicht noch ein paar ältere Artikel hier, aber nicht alles, das ist mir einfach zu viel.

Peroy
Peroy
14. Juni, 2008 16:09

“Ich finde, der Pfälzer sollte in der Pfalz bleiben, nur dort kann er seinen Dialekt bewahren. Wenn ein paar Leute ihre Heimat verlassen, so ist das gut, das hält die Gene frisch.
Wenn alle unendlich mobil sind, wird die deutsche Sprache zu einem Einheitsbrei, langweilig. Und damit meine ich nichtmal die Sprachverfälschungen der letzten Jahre. In keinem deutschen Dialekt wird Sinn gemacht; wenn man etwas realisiert, dann macht man ein Auto oder einen Film oder …, man begreift es nicht.”

Der is’ echt ein Sprach-Nazi, das ist bei dem schon manisch…

Wortvogel
Wortvogel
14. Juni, 2008 16:14

Na na, Peroy – Godwin’s Law gilt auch hier: Wer den Vergleich zu Nazis zieht, hat schon verloren!

Peroy
Peroy
14. Juni, 2008 20:33

Ich will ja nicht den Sieg… den totalen…

Höhö… 8)

Lindwurm
15. Juni, 2008 01:28

Lieber Wortvogel

Als ich noch ein junger Spatz war, so im Alter zwischen 14 und 18, da konnte ich mir keinen schlimmeren Lebensentwurf vorstellen, als den von dir hier positiv geschilderten, also mit 14 in die Lehre zu gehen, sein ganzes Leben einer einzigen Firma zu dienen und dann, wenn die Kräfte nachlassen, mit der berühmten goldenen Uhr zum Sterben geschickt zu werden. Natürlich wurde auch ich älter und gescheiter und habe inzwischen erkannt, dass solche Arrangements zwischen “Rheinischen Kapitalisten” und den Arbeitskraftverkäufern trotz der ihnen immanenten Trostlosigkeit halt immer noch in vieler Hinsicht besser waren als der nun wieder zurückkehrende und mit allerlei sich hip gebendem Blendwerk garnierte Manchesterliberalismus. Dennoch ist die Sache so einfach nicht, wie es beim ersten Hingucken aussieht. Mit und neben dem Zwang zur Flexibilität traten auch neue Freiheiten in unser Leben, und ich mag mich jetzt nicht darauf festlegen, dass die spießige Enge der festgeschrieben Lebensentwürfe wirklich besser war als das kapitalistische Wettbewerbschaos, denn genau das, was du kritisierst, nämlich die Möglichkeit, dass Menschen zumindest die Chance haben, als Angeber und Blender Karriere zu machen, kann man auch positiv wahrnehmen. Ich finde es ganz okay, dass neue Karrieren möglich sind, die es in der ständischen Lebenswelt der 50er Jahre nicht gegeben hätte. Womit du aber vollkommen recht hast, ist die große Frage zu stellen: Was tun mit all jenen, die sich in dieser schönen neuen Welt der Berufsquassler und Intenetscharlatane nicht zuerechtfinden? Das wird die große sozialpolitische Herausforderung der nächsten Jahre sein.

Wortvogel
Wortvogel
15. Juni, 2008 11:15

@ Lindwurm: Wir sind da einer Meinung. Als Kind war für mich der Gedanke Horror, in einem Beruf vor mich hinzuwerkeln, der keine Leidenschaft und keine neuen Ideen weckt. Und in vielen Bereichen ist das heute noch so. Aber es gab zumindest diese Option, die andere Menschen ergreifen konnten. Mich hat entsetzt, dass die “Einfach-Arbeiter” (und das ist nicht wertend gemeint, ich hätte gerne einen besseren Begriff) mit ihrem Tagewerk nicht mehr ihren Lebensunterhalt bestreiten können: Friseusen, Sicherheitsleute, Kassiererinnen, Erntehelfer. Ich bin wahrlich kein Sozi mehr, aber in meinen Augen DARF es keine Diskussion über diesen einen Punkt geben: Wer vollzeit arbeitet, kann davon menschenwürdig leben, und eine Alterssicherung schaffen, die ihm eine vergleichbare Rente garantiert. Das ist Menschenrecht.

Die da oben sollen ruhig reich und fett werden – wenn die da unten versorgt sind. Das ist der Deal.

Stony
Stony
15. Juni, 2008 14:38

Und genau DA liegt das Problem:

‘Die da oben’ können nur reicher und fetter werden wenn sie ‘denen da unten’ (also der breiten Masse) immer mehr ‘die Kohlen aus der Tasche ziehen’, eben weil das ganze System so ausgelegt ist: nur Gewinn machen reicht halt nicht, der Gewinn muß immer größer werden, der Marktwert (meist mit dem Aktienwert gleichgesetzt) muß steigen, sonst ist die Firma angeblich nix wert und etwas ‘läuft falsch’ im Management – also heißt es immer mehr die Kosten drücken (über Personalabbau/Lohnsenkungen/Zeitarbeiter und/oder Preiserhöhungen bzw. günstigeren Einkauf von notwendigen Rohstoffen was meist nicht oder kaum möglich ist) und der Leidtragende ist der ‘kleine Mann’ der bei sinkenden Einnahmen immer größere Ausgaben hat…

Ich persönlich finde es unglaublich wie viele Leute heutzutage über Zeitarbeitsfirmen für einen Hungerlohn (800€ für einen Vollzeitjob und 400€ für Teilzeit kann man wohl kaum anders bezeichnen) malochen müssen und das oft in Berufen die früher angesehen waren, ein normales Leben und evtl. einen ‘kleinen Wohlstand’ garantierten – z.b. Buchhalter, Ingenieure oder auch Handwerker.

Nur ein Beispiel aus meinem persönlichen Umfeld:

In einer Frima die ca. 600 Schweißer beschäftigt bekommen junge Ingenieure (x Jahre FH-Studium) weniger Geld als die Arbeiter die im 3-Schichtsystem (jede Woche eine andere Schicht) mit ca. 1000-1500€ nach Hause gehn – wie soll man sich da eine Existenz aufbauen (Wohnung, Familie, Auto etc.)? Und diesen Leuten geht es angeblich noch ‘gut’ – wie sehr müssen da erst alleinstehende Mütter mit Kindern täglich kämpfen die halbtags oder auch Vollzeit für die angesprochenen Hungerlöhne arbeiten?

Die Politik interessiert sich nicht wirklich dafür, Hauptsache die Firmen in deren Aufsichtsräten unsere ‘Volksvertreter’ sitzen machen fette Gewinne – schöne neue Welt der globalisierten Lohnsklaverei… An die hin und wieder abgegebenen Lippenbekenntnisse aus Politik und Wirtschaft kann kein vernünftiger Mensch mehr glauben, die Macht etwas zu ändern bzw. den Willen dazu haben ‘die da oben’ eh nicht und alles wird so weitergehen wie gehabt…^^

Wie gesagt: ein systeminhärentes Problem das sich durch kleine Maßnahmen von politischer Seite nicht lösen lassen und wohl bis zum Äußersten ausgereizt wird, bis es eben mal wieder dazu führt, daß alles den berühmten Bach runter geht und dann gibt es die nächste Wirtschaftskrise oder Revolution, oder so…

Thorsten
15. Juni, 2008 15:27

Ein weiteres Problem: Lindwurm hat geschrieben, er habe sich zwischen 14 und 18 keinen schlimmeren Lebensentwurf vorstellen können, als den, für das ganze Leben festgelegt zu sein. Und das ist sein gutes Recht.

Jemand anderes möchte aber vielleicht genau das, eine gewisse Sicherheit dadurch, dass er seinen Beruf lernt und bis zur Rente darin arbeitet. Für die Sicherheit muss er vielleicht ein wenig seiner Freiheit hergeben aber auch das ist sein gutes Recht.

Allerdings wird die Möglichkeit, zwischen diesen beiden Entwürfen zu wählen, Schritt für Schritt abgeschafft. Man hat gefälligst flexibel zu sein, und damit basta! Immer mehr wichtige Menschen werfen mit Phrasen um sich wie “…den klassischen Lebenslauf wird es nicht mehr geben…”
Damit spricht man den Menschen das Recht ab, überhaupt wählen zu dürfen. Überzogen ausgedrückt ist das “liberaler Zwang”, denn man schreibt damit den Menschen vor, wie sie ihr Leben zu gestalten haben.

Nach dem Motto: “Du hast alle Freiheiten, Dein Leben zu gestalten – nur nicht SO!”

Achim
Achim
15. Juni, 2008 21:18

Peroy:

Der normale Pfälzer will in der Pfalz bleiben, ebenso wie der Küstenbewohner an der Küste bleiben will.

Wenn die wegziehen, dies auch weg zieht, ist das nicht schlimm, aber die, die bleiben wollen, sollten auch dazu die Möglichkeit haben. Von allen grenzenlose Mobilität zu verlangen, ist, gelinde gesagt, falsch.

Und mit den manischen Einschüben hast du recht, das gehört zu meinem Krankheitsbild, auch wenn ich mich nicht krank fühle, weil ich nie krank geworden bin, sondern schon immer “anders” war als andere, und das als krank angesehen wird.

Und den Pfälzer habe ich gewählt, da ich, selbst Moselfranke (nenn mich NIE Saarländer!) Pfälzisch, vor allem das der Schlabbeflicker aus Pirmasens und Umgebung einen besonders schönen Dialekt finde.

Und freilich muss ich dem Wortvogel zustimmen, dass der Nazivergleich unumstößlich zur Niederlage führt.

Stony
Stony
15. Juni, 2008 21:27

Warum nur erinnert mich das Ganze so sehr an die Parolen von ‘Ich-les-alles-mit’-Schäuble, der dem Land schon ewig und drei Tage lang erzählen will die immer größeren Einbußen unserer Freiheit seien nur zu unserem Besten und würden der Sicherheit dienen?

Alles worauf die derzeitige Politik in diesem Land abzielt ist nur darauf ausgerichtet die Menschen dazu zu bringen so zu ‘funktionieren’ wie es gewisse Kreise haben wollen.
Von der freien Wahl der Lebensentwürfe ist da nichts zu sehen, man kann sich nur noch aussuchen in welche Schublade man sich stecken lassen will bzw. muß man mittlerweile zu einer Art ‘Kommode’ werden aus der man bei Bedarf zwischen diversen Schubladen wählen kann…

Freiheit sieht anders aus!

Ach ja, gibt es nicht auch seit längerem das Problem sinkender Geburtenraten und ‘Vergreisung’ in diesem unserem Land? In anderen Teilen dieser Welt (vor allem Skandinavien) stehen Familien hoch im Kurs die eben diesen Phänomenen entgegen wirken, bei uns ist man schon fast bescheuert, wenn man Kinder in die Welt setzt, echte Unterstützung sucht man vergebens und die angesprochenen Zwänge von Mobilität, Flexibilität etc.pp. dienen wohl kaum dazu daß Kinder vernünftige Entwicklungsbedingungen haben (Erziehung, Ausbildung, Freundschaften, Sicherheit usw.). Mit den ‘neuen Mustern’ kann man wohl höchstens als Single klarkommen, was das genau bewirkt wird die Zeit zeigen, aber für mich ist eines klar: konnte man früher noch ‘Arbeiten um zu Leben’ heißt es jetzt (und in Zukunft) wohl fast nur noch ‘Leben um zu Arbeiten’…

Peroy
Peroy
15. Juni, 2008 22:35

“Der normale Pfälzer will in der Pfalz bleiben, ebenso wie der Küstenbewohner an der Küste bleiben will.

Wenn die wegziehen, dies auch weg zieht, ist das nicht schlimm, aber die, die bleiben wollen, sollten auch dazu die Möglichkeit haben. Von allen grenzenlose Mobilität zu verlangen, ist, gelinde gesagt, falsch.

Und mit den manischen Einschüben hast du recht, das gehört zu meinem Krankheitsbild, auch wenn ich mich nicht krank fühle, weil ich nie krank geworden bin, sondern schon immer “anders” war als andere, und das als krank angesehen wird.

Und den Pfälzer habe ich gewählt, da ich, selbst Moselfranke (nenn mich NIE Saarländer!) Pfälzisch, vor allem das der Schlabbeflicker aus Pirmasens und Umgebung einen besonders schönen Dialekt finde.

Und freilich muss ich dem Wortvogel zustimmen, dass der Nazivergleich unumstößlich zur Niederlage führt.”

Da hat mich mein saarländisches Gespühr also nicht getrügt, kein Wunder dass ich den Typ nicht leiden kann…

Versteht irgendeiner den dritten Absatz ? Also, ich nicht…

Wortvogel
Wortvogel
15. Juni, 2008 22:39

Peroy: Lass gut sein. Das ist nicht das Thema, bei dem man stänkern sollte.

comicfreak
16. Juni, 2008 09:13

..also, wer irgendwas am durchschnittlichen Schlabbefligger (eigentlich: Braddler) schön findet, muss definitiv krank sein..

zum eigentlichen Thema:
ich such immer noch den Mitarbeiter, der hier seine Lehre machen und lebenslang im Betriebh bleiben will!!!

El Barto
El Barto
16. Juni, 2008 11:13

Ich suche jetzt seit 5 Monaten einen Job bzw eine Ausbildungsstelle. Nach meinem abgebrochenen Studium suche ich auch direkt Jobs die mich Geistig und Körperlich fordern aber mir ein gewisses Gehalt einbringen und mich nach Arbeitsschluss in Ruhe lassen.

Find ich nicht, die Jobs die mich Geistig fordern würden fallen raus weil ich im Fachabi nur 3,2 habe und die Körperlichen fall ich raus weil ich Überqualifiziert bin.

Habe mich Bayernweit beworben ~85 Bewerbungen bisher außer Spesen nix gewesen? Klar habe ich Vorstellungsgespräche, klar mache ich Praktikas aber so gehts doch nicht weiter. Aktuell bin ich genauso ein Nomade ständig auf Achse, fahre Kilometer um Kilometer zu ständig wechselnden Arbeitsstellen und arbeite da für lau weil ja Praktikum.

Jetzt mach ich wohl doch ne Lehre als Bauzeichner, macht mir kein Spaß, fordert mich nicht Geistig und schon gar nicht körperlich, häng den ganzen Tag am PC und Zeichne da. Das hat mich im Studium schon gelangweilt weils kein Stück kreativ ist, einfach nur ermüdend. Wenigstens hab ich dann aber mal was, denn mit 24 fällt man in den größeren Firmen ja schon wegen des Alters raus in der Ausbildung.

Live sucks aber die Graphik ist geil…

Mencken
Mencken
16. Juni, 2008 17:17

Nur einige kurze Anmerkungen in willkürlicher Abfolge:

1. Ich denke, daß hier vielleicht auch das eigene Berufsumfeld stärker einwirkt, als man denken sollte – die “Medien” habe ich auch immer als äußerst albernes Umfeld empfunden (aufgrund des geradezu fanatischen Nachbetens jedes Trends und Schlagworts, wie eben iCompany, etc.), oftmals durchaus zum Schaden der jeweiligen Betriebe.

2. Eventuell sollte man hier zwischen langfristigem Trend und “Kurzzeitmode” unterscheiden – zumindest mittelbar gibt es genügend Gründe, zukünftig verstärkt auf Nachhaltigkeit zu setzen und entsprechende Konzepte sieht man ja bereits jetzt in den USA, Australien oder dem Vereinigten Königreich – fraglich, ob sich Deutschland dauerhaft einen Verzicht auf ein ähnliches Umschwenken erlauben kann.

3. Einmal mehr handelt es sich hier um ein primär deutsches Phänomen, trotz aller das Gegenteil behauptenden Reportagen, Artikel usw. ist dies keineswegs ein Resultat angelsächsischer, bzw. amerikanischer Liberalisierungsumtriebe. Hier könnte ich jetzt seitenlang zu schreiben, aber knapp gesagt haben wir hier zwei Problemfelder – ein Mentalitätsproblem innerhalb der deutschen Wirtschaft, die die Implikationen der Globalisierung nie wirklich verstanden hat und ein “Organisationsproblem” – die alte Regel, “wer nichts kann, wird in die Personalabteilung gesteckt” gilt leider auch heute noch oftmals und gerade der Abwanderungsgrad der wirklich kreativen Kräfte (mit entsprechend “unordentlichem” Lebenslauf) ist bei uns im internationalen Vergleich erschreckend hoch (wobei es ja offensichtlich genügend interessierte Länder gibt – ein weiterer Beleg dafür, hier ein spezifisch deutsches Problem vorliegen zu haben).

4. Nur mal ein ebenso subjektives Gegenbeispiel – ich habe mehrere Jahre in den USA und Australien im (vorwiegend) Consulting-Bereich gearbeitet und wer dort mit “ich AG” oder “iCompany” ankommen würde, macht sich allenfalls lächerlich – gerade der Verzicht auf Phrasen wird dort eher als positiv empfunden, ebenso wie mögliche Bedenken hinsichtlich permanenter Ortswechsel, etc. oftmals als authentisch und positiv (=loyal, nicht egoistisch, usw.) empfunden werden.