27
Jun 2016

Liebes Mimikama: Der gefährliche Passwort-Unsinn

Themen: Film, TV & Presse, Neues |

Es gibt kaum eine Webseite, die angesichts allgemeiner Medien-Unmündigkeit so wichtig ist wie Mimikama. Auch wenn Sascha Pallenberg das anders sieht – es ist leider nötig, die Leute wieder und wieder auf die immer gleichen und immer dummen Lügen, Gerüchte und Betrügereien im Netz aufmerksam zu machen. Weil sie wöchentlich wiederkehren – und wöchentlich wieder geteilt werden.

Mimikama ist wichtig. Mimikama dient der guten Sache. Mimikama steht auf unserer Seite. Das vorab.

Heute macht sich Mimikama allerdings in meinen Augen zum wiederholten Male genau der Sache schuldig, die man eigentlich anprangert – der Verbreitung gefährlichen Unfugs.

Es geht um die tausendfach geteilte Aufforderung, Kindern ein Passwort beizubringen, um sie vor dem “bösen Onkel” zu schützen.

Im Kern sind es solche Kettenbriefe, die in leicht variierender Form in den sozialen Netzwerken kursieren:


An Alle Eltern! – Bitte TEILEN!

Einen 8-jähriger Junge wurde von einem fremden Mann angesprochen, der meinte, er solle sofort mitkommen, es sei was passiert und seine Mutter hätte gesagt er solle ihn holen.
Darauf fragte der Junge nach dem PASSWORT!
Die Verwirrung des fremden Mannes nutze der Junge aus, um wegzulaufen.
Er hatte mit seiner Mutter ein Passwort ausgemacht, das als “Code” dienen sollte, falls sie jemals jemanden schicken würde, um ihn abzuholen, den der Junge nicht kennt.
Vielleicht hat das dem Jungen das Leben gerettet.
SO EINFACH – SO SIMPEL!!!

Bitte macht mit Euren Kindern auch ein “PASSWORT” aus!
Vielleicht macht es die Welt eurer Kinder ein wenig sicherer.


Ihr ahnt es schon – was “SO EINFACH – SO SIMPEL!!!” ist, ist selten auch so schlau.

Seit geraumer Zeit empfiehlt Mimikama diese Methode – mittlerweile erweitert um andere Sicherheitstipps für besorgte Eltern. Ich finde das bestenfalls albern, im schlimmsten Fall gefährlich, weil die so gepriesene “Passwort-Methode” Sicherheit suggeriert, die es nicht gibt.

Ich habe bestimmt schon ein Dutzend mal (durchaus mit Erfolg) in Kommentarspalten darauf hingewiesen, auf welchen Denkfehlern dieser Ratschlag basiert, aber weil ich nicht vorhabe, damit meinen Lebensabend zu verbringen, schreibe ich es nun hier auf.

Fangen wir mal mit dem Kettenbrief an:

“Darauf fragte der Junge nach dem PASSWORT!
Die Verwirrung des fremden Mannes nutze der Junge aus, um wegzulaufen.”

Lassen wir mal außen vor, dass das völlige Fehlen von Orts- und Zeitangaben auf einen fiktiven Bericht schließen lässt: Ein Sexualstraftäter, der sich von einem Achtjährigen austricksen lässt? Der einem Achtjährigen nicht problemlos nachlaufen könnte? Wer soll diesen Unfug denn glauben?

Vor allem aber: So funktioniert das nicht. Nie im Leben.

Stellen wir uns für einen Moment mal vor, ich wäre ein Sexualstraftäter auf der Suche nach minderjährigen Opfern. Ich spreche in einer Gegend, wo gerade keiner so genau hinschaut, einen Jungen an:

“Komm schnell mit, deiner Mama ist was passiert! Ich soll dich zu ihr bringen!”

Der Junge ist schlau und hat gut aufgepasst:

“Was ist das Passwort?”

Bin ich dann verwirrt, überfordert, lasse ich den Jungen spontan ziehen? NEIN. Ich antworte z.B.:

“Das konnte sie mir nicht sagen, weil sie ohnmächtig geworden und ganz schlimm blutet! Komm mit!”

Oder:

“Das Passwort heißt Schnitzel.”

Darauf der Junge:

“Stimmt ja gar nicht!”

Ich halte dagegen:

“Doch, deine Mama hat’s doch gestern geändert – hast du denn wieder nicht zugehört?!”

Glaubt irgendjemand ernsthaft, dann wäre nicht der Junge, sondern der Sexualstraftäter überfordert? Es liegt in der Natur der Sache, dass man Kindern eine gewisse Vorsicht antrainieren kann – aber es fehlt ihnen die Reife, eine zunehmend komplexer werdende Stresssituation korrekt einzuordnen. Das Passwort schafft keine Sicherheit, sondern Unsicherheit, weil es dem Kind eine Verantwortung auferlegt, die es gar nicht komplett erfassen kann.

In meinen Augen liegt der Passwort-Methode der typische Trugschluss zu Grunde, man könne Kinderproblemen mit Erwachsenenlösungen begegnen. Aber so drollig und schlau die Kleinen auch sein mögen (IHR Kind ganz besonders, natürlich!) – sie können einer Person, die ihnen etwas Böses will, weder körperlich NOCH intellektuell nennenswert etwas entgegen setzen. Den Eindruck zu erwecken, mit einem Passwort wäre das zu ändern, ist brandgefährlich.

Das Problem hat Nebenaspekte, auf die ich gar nicht näher eingehen will, weil sie nicht so schwer wiegen wie der fatale Glaube an die falsche Sicherheit:

Was, wenn das Kind z.B. in einer Gefahrensituation tatsächlich von einer Autoritätsperson angesprochen wird, dieser aber – wie abgesprochen – nicht Folge leisten will?

Was, wenn das Kind das Passwort vergessen hat und sich hilflos und unsicher fühlt?

Schüren wir nicht eine statistisch vergleichsweise unbegründete Angst vor der Welt, erziehen wir nicht Heerscharen kleine Paranoiker, in dem wir selber glauben und unseren Kindern einreden, auf den Straßen würden nur potenzielle Sexualverbrecher herum laufen?

Für mich zählen darüber hinaus zwei Tatsachen:

Die meisten Missbräuche geschehen im Familien- und Bekanntenkreis, die übertriebene Sorge vor dem “schwarzen Mann” ist eine leichtsinnige Sozialmär.

Kinder sollen sich von Fremden GAR NICHT ansprechen/anfassen lassen, keine Fragen beantworten, sich sofort wegdrehen. Das Prinzip lautet “do not engage”. The only winning move is not to play. Und genau DIESES Level an Interaktionskomplexität können sich Kinder merken.

Ich weiß, warum diese Meldung nicht totzukriegen ist. Weil Eltern Angst um ihre Kinder haben, und Angst ist irrational. Weil es unbequemer ist, sich klarzumachen, dass der sexuelle Missbruch vom Freund, Bruder, Onkel oder Lebensgefährten ausgehen könnte. Der fremde, abstrakte Sexualverbrecher ist eine bequeme, aber diffuse Bedrohung, die mit immer neuen Geschichten in den sozialen Netzwerken befeuert wird. Die “Passwort-Methode” verspricht Abhilfe, Sicherheit, Beruhigung – und dem Weiterleiter das Gefühl, ein guter Mensch zu sein.

Eine win/win-Situation.

Bloß nicht für die Kinder.

Und darum bitte ich Mimikama an dieser Stelle: Hört auf, diese Non-Lösung eines größtenteils Non-Problems zu verbreiten.



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Steffen
Steffen
27. Juni, 2016 12:54

Als Vater eines Kindes muss ich dir da absolut zustimmen. Ich verstehe auch nicht so ganz, warum gerade dieser Kram immer beworben wird als das Allheilmittel.

AlphaOrange
AlphaOrange
27. Juni, 2016 13:14

Hmm.. ich find jetzt auf beiden Seiten die Argumentation etwas löchrig, auch auf deiner.

“Ein Sexualstraftäter, der sich von einem Achtjährigen austricksen lässt? Der einem Achtjährigen nicht problemlos nachlaufen könnte? Wer soll diesen Unfug denn glauben?”
Ein Täter, der einen Achtjährigen mit warmen Worten locken will, mit ins Auto zu steigen ist nicht unbedingt einer (ich vermute gar: in den allerseltensten Fällen), der dem Kind hinterherläuft, es packt und das dann vermutlich strampelnde und schreiende Blag ins Auto zerrt. Ich stimme dir zu, dass die dort verbreitete Geschichte vermutlich erfunden ist, aber ich kann sie mir durchaus vorstellen. Auch dass ein Täter, wenn er nicht gerade Serientäter ist, im sicherlich angespannten und hochnervösen Zustand von so einer simplen Frage erstmal auskontern lässt und nicht direkt eine clevere Antwort parat hat, halte ich für durchaus vorstellbar (kritisch allerdings: wenn das Kind erst einmal die Konversation annimmt – läuft es dann nach der Frage wirklich weg?!).

Das heißt nicht, dass das Passwort in dieser Situation sicher schützt, aber ich kann mir Situationen vorstellen, in denen es das tut. Fraglich ist für mich eher, wieviel Kinder emotional überhaupt noch in der Lage sind, an sowas zu denken, wenn man sie direkt mit Aussagen wie “Mutter im Krankenhaus” konfrontiert. Auf der anderen Seite fehlt gerade kleinen Kindern oft das Verständnis für Dramatik und sie spülen das ihnen beigebrachte Programm ab, wo ein Erwachsener in Panik gleich alles gelernte vergessen würde.

Wiegt das die sicherlich vorhandenen negativen Aspekte auf? Ich weiß es nicht. Das größte Problem sehe ich darin, dass es mit einem absoluten Grundsatz kollidiert, der jedem Kind beigebracht werden sollte, nämlich entschieden Nein zu sagen, wenn einem etwas gegen den Strich geht (auch wenn man das als Eltern in der weiteren Erziehung sicherlich das ein oder andere Mal bereuen wird). Und dann gebe ich ein Passwort, das dazu da ist, ein solches Nein zu überstimmen? Bedenklich.

Je mehr ich drüber schreibe, desto stärker finde ich mich in deiner Contra-Position wieder, auch wenn ich deine Argumente nicht unbedingt teile.

Wortvogel
Wortvogel
27. Juni, 2016 13:19

@ AlphaOrange: “Ein Täter, der einen Achtjährigen mit warmen Worten locken will, mit ins Auto zu steigen ist nicht unbedingt einer (ich vermute gar: in den allerseltensten Fällen), der dem Kind hinterherläuft, es packt und das dann vermutlich strampelnde und schreiende Blag ins Auto zerrt.” – das habe ich auch nicht behauptet. Wenn er das aber sowieso nicht täte, bräuchte ich auch die Ablenkung mit dem Passwort nicht – dann würde weglaufen reichen. Das Szenario ist einfach Kappes.

HERDIR
HERDIR
27. Juni, 2016 13:57

Danke für den Beitrag ( den ich gleich in der Familie verteilen werde) …

Im KiGa meiner Tochter wurden die Kinder auch neulich “aufgeklärt” von der Polizei bzgl. “Fremder”! … Das Resultat: meine Tochter ist zunehmend ängstlich, verstört und äußerst verunsichert auch in vermeintlich sicheren Orten (Schwimmbad), wenn sie auf andere Menschen trifft … ständig sondiert sie “wer ist fremd” … das führt dann eben auch dazu, dass sie bei Familienfeiern alle als fremd einstuft, die ihr nicht wöchentlich über den Weg laufen …

Sehr gute Arbeit … und aus meiner Sicht das Schlimmste daran … die Eltern wurden über den “Besuch” des Polizisten im Nachhinein informiert … jetzt kann ich mühsam wieder hinbiegen was in dem Fall mutwillig und gutwillig zerstört wurde …

AlphaOrange
AlphaOrange
27. Juni, 2016 15:09

@Wortvogel:
Klar, weglaufen würde genauso reichen. Und ich hab ja oben schon die Frage aufgestellt, ob das Kind denn überhaupt noch wegläuft, wenn es sich erst einmal selbst in de Konversation verwickelt. Ich find das Szenario trotzdem nicht so unsinnig, vorausgesetzt, da wurde wirklich einem Kind der “Passwort-Trick” anerzogen.
Ich ziehe den Knackpunkt des Ganzen mal von der anderen Seite auf: Will ich, dass mein Kind bedingungslos mit einem Fremden mitgeht, wenn er das Passwort kennt? Das ist die Frage, die man sich als Eltern mal stellen sollte.

Mieze
Mieze
27. Juni, 2016 15:40

Ich hab mich auch schon öfter gefragt, wie es zu einer Situation kommen kann, in der ein dem Kind völlig Fremder es abholen kommt.
Wenn ich das Kind abholen soll, aber es nicht schaffe, rufe ich keinen Fremden an. Alle Leute, denen ich die Aufgabe anvertrauen würde, sind auch meiner Tochter bekannt. Und wenn die wirklich ALLE keine Zeit haben, dann kläre ich das mit dem Ort, an dem meine Tochter sich aufhält – wenn es etwas ist, wo ich sie abholen soll, habe ich sie vorher auch abgegeben, und die stellen sie dann nicht einfach auf die Straße.
Also ist es einfach: Geh nicht mit Fremden mit. Nie. Egal, was er sagt.

Andre von ZDDK Mimikama
Andre von ZDDK Mimikama
27. Juni, 2016 18:03

Hallo lieber Wortvogel!

An dieser Stelle erstmal vielen Dank für Deinen Denkanstoß, den wir nun zum Anlass nehmen, zu diesem Thema nochmals und intensiv den Aspekt zu beleuchten.

Wir werden daher mit entsprechenden Beratungsstellen Kontakt aufsuchen und sehr gerne die Ergebnisse veröffentlichen – ganz unabhängig von den Ergebnissen.

Liebe Grüße… Andre

Wortvogel
Wortvogel
27. Juni, 2016 22:06

@ Andre: Prima. Freut mich, dass ihr das nicht als Angriff seht, sondern als das, als was es gemeint ist – ein Denkanstoß.

Peroy
Peroy
27. Juni, 2016 22:15

“Detlef, das Passwort ist gedjHd?&4778@sss{}#7:8… merk’s dir!”

RW
RW
27. Juni, 2016 22:58

> “Kinder sollen sich von Fremden GAR NICHT ansprechen/anfassen lassen, keine Fragen beantworten, sich sofort wegdrehen.”

Huch – muss man das so hart formulieren? Als Vater bevorzuge ich es eigentlich eher, dass meine Kinder Erwachsenen zuhören, bzw. sich in Notsituationen helfen lassen.

Am Wochenende habe ich mich im Schwimmbad um ein kleines Mädchen gekümmert, das seine Mama verloren hatte¹. Wenn das Kind schreiend vor mir weggelaufen wäre, würde ich es mir beim nächsten Mal zweimal überlegen, ob ich helfe.

¹) konkret: mit ihr geredet, gesagt, dass die Mama bestimmt gleich kommt, Bademeister abgefangen und Kind übergeben. Wenn der Bademeister nicht vorbeigekommen wäre, wäre ich aber überfordert gewesen – ich wollte das Kind eigentlich am liebsten hochheben und rufen “Vermisst hier jemand ein Kind” – aber das habe ich mich aus Angst vor Belästigungsvorwürfen nicht getraut. Und mit dem Kind zusammen einen Bademeister oder die Mama zu suchen, kann ja auch schnell fehlinterpretiert werden.

Whisker
Whisker
28. Juni, 2016 02:09

Okay, der Tip mit dem Paßwort ist wirklich Schwachsinn (und wenn ich mich richtig erinnere, ein uralter Kettenbrief, der mir schon vor mehr als 20 Jahren mal irgendwo untergekommen ist).

Aber die restlichen Tips in dem Artikel finde ich durchaus okay.
Okay, das mit den “Was wäre wenn”-Rollenspielen sollte man vielleicht etwas behutsam angehen, also nicht auswendig lernen oder Situationen drillmäßig einüben lassen.
Sondern eher überlegen, ob und wie man einem Kind Grundkonzepte vermitteln kann, auf denen aufbauend es selbstständig Lösungen finden kann.

@Peroy: Pöh, voll retro.
Wenn schon, dann Elgamal-Schlüssel mit mindestens 2084 Bit. 😉

Whisker
Whisker
28. Juni, 2016 02:24

Und was Pallenberg angeht:
Ich denke, der sollte besser lernen, zu Ende zu lesen, bevor er über etwas schreibt.

Sonst dürfte er sich wohl öfter damit lächerlich machen, dass er genau das Gegenteil von dem kritisiert, was überhaupt geschrieben wurde, weil er eben nicht weiß, was Sache ist (so wie z.B. bei den Mimikama-Beispielen, auf die er sich in seinem Artikel bezieht)…

Jörg
Jörg
28. Juni, 2016 08:43

Mit deinem Fazit gehe ich nicht so ganz d’accord:
“Der fremde, abstrakte Sexualverbrecher ist eine bequeme, aber diffuse Bedrohung, die mit immer neuen Geschichten in den sozialen Netzwerken befeuert wird.”
12jähriger Junge entführt
Der Mann, der Elias und Mohamed umbrachte
Nur zwei Fälle aus der jüngsten Vergangenheit. Ich empfinde diese Bedrohung als durchaus real.

HERDIR
HERDIR
28. Juni, 2016 09:38

@Jörg
Vom Blitz getroffen zu werden empfinde ich auch als reale Bedrohung … mach ich deshalb alle Leute verrückt?

Jörg
Jörg
28. Juni, 2016 09:53

@Herdir: Deine Sache, wenn Du deinem Kind erklärst, dass es OK ist, während eines Gewitters mit dem Fahrrad übers offene Feld zu fahren… .
Abseits der Polemik: Es dreht sich doch um Sensibilisierung. Und bei diesem Thema ist es mir lieber, wenn mein Kind über-sensibel reagiert.

HERDIR
HERDIR
28. Juni, 2016 11:06

@Jörg
Ich glaube mit der Übersensibilisierung einer Generation wird man der Vorbeugung nicht gerecht … vor allem, da die Tatorte eher im Vertrauten liegen (zu Hause, beim Onkel, beim Pfarrer, im KiGa) … eben nicht dem “Fremden” …

Aber grundsätzlich ist schwer zu diskutieren wenn die tatsächlichen Fallzahlen eher unbekannt und wir von subjektiven vermeintlichen Bedrohungsszenarien ausgehen …

Ich will jedenfalls nicht, dass ein Kind schreiend (Feuer o.ä.) durch die Straßen läuft nur weil es von einer ihm unbekannten Person angesprochen wurde …

Jörg
Jörg
28. Juni, 2016 12:47

@ Herdir: Die Statistik hat Torsten ja verlinkt: 75% des Mißbrauchs durch bekannte Personen, 25% durch Fremde. Dieses Viertel ist mir zu viel für eine nur “diffuse Bedrohung”.
Bei der Alarmierung ist es doch so: Lieber einmal zu viel, als einmal zu wenig.

HERDIR
HERDIR
28. Juni, 2016 13:08

@Jörg
Ich glaube wir sind uns näher als es scheint … ich möchte aber eigentlich verhindern, dass Kinder eine ständig diffuse Angst vor allem/n Unbekannten entwickeln und manifestieren … Wichtiger als Angst machen ist doch die Entwicklung zu Persönlichkeiten zu fördern die nicht angstbibbernd und Hilfe schreiend vor allem/n Fremden wegrennen … Somit wäre alles Fremde gleich das Böse …

Es wäre doch sinnvoller etwas gegen die 75% Bedrohung durch Missbrauch von Bekannten zu tun, oder? Und das kann ich nicht mit Passwort und/oder dem Hinweis auf “Das Unbekannte” tun …

Da nützt mir eine Übersensibilisierung für die 25% nichts …

Jörg
Jörg
28. Juni, 2016 14:10

@Herdir: Es gibt nicht den Königsweg. Eine pauschale Dämonisierung aller Fremden ebenso wenig wie die Hoffnung, dass schon nichts passieren wird.
Nochmal: Die Passwort-Lösung halte ich auch für angreifbar. Was bleibt, ist die Hoffnung, die Kinder richtig vorbereitet zu haben.

Wortvogel
Wortvogel
28. Juni, 2016 19:28

@ Jörg: Ich habe an keiner Stelle die Gefahr durch Fremde bagatellisiert. Wenn ich mich selbst mal zitieren darf:
“Kinder sollen sich von Fremden GAR NICHT ansprechen/anfassen lassen, keine Fragen beantworten, sich sofort wegdrehen. Das Prinzip lautet “do not engage”. The only winning move is not to play. Und genau DIESES Level an Interaktionskomplexität können sich Kinder merken.”
Es geht mir aber um die adäquate Einordnung des Bedrohungspotenzials. Wie herdir schon richtig andeutet, kann man JEDE Gefahr mit einem “besser vorher aufpassen als später bereuen” zu einem permanenten Trauma hochjazzen. Aber das ist kein Leben. Und so sehr man Kindern beibringen muss, vorsichtig zu sein – die Unbeschwertheit der Kindheit ist ein ebenso dringlich zu schützendes Gut.

Dietmar
Dietmar
28. Juni, 2016 21:11

Kinder teilen nicht unbedingt in bekannt/unbekannt ein sondern auch in vertrauenswürdig/nicht vertrauenswürdig bzw. beurteilen sie nach spontaner Sympathie oder Interesse. Und das bewerten sie manchmal höher als das, was man ihnen gesagt hat oder denken nicht mal daran.

Ich lungerte heute im Wartezimmer herum, um auf meinen Sohn zu warten, da spielte ein etwa fünfjähriges Mädchen vor mir auf dem Boden, während die Mutter minutenlang nicht da, lächelte immer wieder zu mir und versuchte mich in ihr Spiel einzubinden. Ich war ihr wohl irgendwie sympathisch (Herrgott, ich weiß doch auch nicht, aber es gibt Leute, die finden mich nett; wehe, hier wird gegen Minderheiten gemobbt!). Ich hätte das Kind mit Leichtigkeit entführen können.

Man kann als Eltern schon etwas tun, aber ein Passwort zum Schutz?

turtle of doom
turtle of doom
28. Juni, 2016 22:26

Es gäbe eine sicherere Lösung – dem Kind sagen, an welche Person (oder wohin) es sich wenden soll, wenn das Kind in einen “Zugzwang” gerät wie in Beispiel beschreiben.

Zum Beispiel könnten Eltern in der Nachbarschaft sich gegenseitig versichern, für die Kinder als Anlaufstelle zu dienen, so dass die Kinder wissen, wo sie eine vertrauenswürdige Hilfe und Mitfahrgelegenheiten finden. Das Kind kann dann glaubwürdig sagen, es müsse “nach Hause” gehen.

HERDIR
HERDIR
29. Juni, 2016 09:16

@turtle
So löse ich derzeit das Problem. Wenn man einen bisher unbekannten Ort (Kaufhaus, Spieleparadies whatever) ansteuert, informiert man das Kind wohin es sich wenden soll (Rezeption, Bademeister usw.) …

So lernt es wo es von wem Hilfe zu erwarten hat und fühlt sich sicherer in unbekannten Terrain … (zumindest hoffe ich das) … Ziel ist das selbst bestimmte Handeln zu fördern und Vertrauensräume zu zeigen …

Und ja … es schützt eben nicht hundertprozentig … aber dafür müsste ich es die ganze Zeit im KiZi einsperren .. und das wollen wir doch nicht 🙂

Earonn
Earonn
29. Juni, 2016 12:19

Können die anwesenden alten Säcke wie ich sich noch daran erinnern, wie man früher als Kind alle Nachbarskinder und damit natürlich auch deren Eltern kannte?
Wie man nach dem üblichen Sturz mit dem Fahrrad (“Ich probier das mal – AUUUAAAA!”) einfach zum nächstbesten Nachbarshaus ging, um sich verpflastern zu lassen, anstatt nach Hause zu gehen?

“Do not engage at all” geht leider auch nicht, denn was macht das Kind, wenn es mal aktiv Hilfe braucht?
Ich denk da an meine eigene gloriose “geh als 6jährige in der Münchner Innenstadt verloren”-Aktion. Da gibt’s keine Ansprechpartner. Ein Junge (so die Mär) hat sich meiner angenommen, man stelle sich vor, ich wäre vor jedem weggelaufen, der mir helfen wollte?
Oder wenn umgekehrt die zwei Lütten, die ich als Erwachsene mit ihren Eltern wiedervereinigte, eben nicht mit der Tante mitgegangen wären?

Ich fürchte, es gibt keine einfache Lösung, Kinder müssen auch lernen, mit Fremden zu interagieren, und wie der Wortvogel halt bereits sagte: a) es gibt keine 100%ige Sicherheit und b) die kindliche Unbeschwertheit ist unbedingt schützenswert

WAS wir tun können, ist als anständiger Mensch aufpassen, hinschauen, Fragen stellen. Nicht abwimmeln lassen, wenn jemand ein schreiendes Kind hinter sich her zerrt. Ja, es ist peinlich, wenn sich am Ende im Angesicht der beiden Polizisten herausstellt, dass es eben doch nur Papa mit dem trotzenden Fünfjährigen war, aber das ist auch der Polizei selbst allemal lieber so (ich sprech hier vom Hörensagen durch eine der beteiligten Polizistinnen).

Wortvogel
Wortvogel
29. Juni, 2016 20:14

@ Earonn: Ich dachte, es wäre klar, dass ich die Kontaktverweigerung natürlich auf den Versuch beziehe, die Kinder anzusprechen. Wenn ein Kind selber einen Erwachsenen anspricht, weil es Hilfe braucht, ist das etwas anderes. Außerdem halte ich es auch für durchaus angemessen, wenn ein Kind “nein” sagen darf, falls ein Erwachsener fragt “Ist mit dir alles in Ordnung? Brauchst du Hilfe?”.