29
Jun 2015

Ein Handschlag über das Jahrhundert hinweg

Themen: Neues |

Es ist eine Binsenweisheit, dass die Geschichte von Siegern geschrieben wird. Eine weitere, dass historische Ereignisse greifbarer und realer sind, wenn man einen persönlichen Bezug zu ihnen hat. Das hat sich heute bewiesen – auf eine mich bewegende Weise, die ich teilen möchte.

Mein Großvater hieß Nikolaus Plotes. Er war im Zweiten Weltkrieg als Belgier von den Deutschen nach Düsseldorf zwangsverschoben worden, um dort zu arbeiten – als Uhrmacher konnte man seine feinmechanischen Fähigkeiten gut brauchen. Nach der Kapitulation des Dritten Reiches kehrte er für ein paar Jahre in das heimatliche St. Vith zurück.

Mitte der 50er – verheiratet mit einer Düsseldorferin – zog er dann mit Sack und Pack (und drei Kindern) erneut an den Rhein, diesmal freiwillig. Nach einiger Suche fand die Familie ein geeignetes Haus in der Richardstraße, das er über die nächsten 20 Jahre in kompletter Eigenarbeit aus- und umbaute:

richard Ich war noch ein Kleinkind, als meine Eltern Anfang der 70er mit uns dort auszogen. Mein (angeheirateter) Vater und mein Großvater unter einem Dach – das ging nicht gut. Dennoch steht das Haus für viele prägende Erinnerungen: Hier wurden die Familienfeste gefeiert, hier lebten neben meinem Opa und meiner Oma auch mein Onkel und meine Tante, hier hatte ich jahrelang ein Keller-Apartment als “zweiten Wohnsitz”, wenn ich von München aus zu Besuch kam. Geburtstage, Weihnachten, Beerdigungen – “our house in the middle of our street”.

Im Treppenhaus, direkt vor der Wohnungstür meines Großvaters, hing ein Ölbild. Ich nenne es nicht Ölgemälde, das würde Stil und Qualität überfordern. Ein einfacher Hof auf dem Land, gemalt aus der Fernsicht von einem Waldrand aus. Einfache Striche, eine einfache Darstellung eines einfachen Lebens.

Der Luxhof. In der Nähe von St. Vith in Belgien. Opa erzählte mir, dass die Familie viele Generationen dort gelebt und gearbeitet hatte. Sozusagen unser Stammsitz. Das, was für die Ewings Southfork ist. Hier ein altes Foto, das dem Bild sehr ähnlich ist:

Luxhof

Ich war nie da. Selbst bei den Besuchen in St. Vith kam keiner auf die Idee, noch mal beim Luxhof vorbei zu fahren. Nach dem Verkauf des Hofes in den 50ern hatte die Familie damit abgeschlossen. Das ist auch der Grund, warum Düsseldorf für mich immer die Keimzelle der Familie war und Opa ihr ältester lebender Vertreter. Reini, ein entfernter Cousin, hatte sich zwar mal die Mühe gemacht, einen Stammbaum bis weit ins 18.Jahrhundert zurück zusammen zu stellen, aber dazu konnte ich keinen Bezug aufbauen.

Das war nicht meine Welt, die Belgier waren nicht wirklich meine Familie.

So lautet meine Erklärung – nicht Entschuldigung -, warum ich über meinen Großvater hinaus fast nichts über die Familie mütterlicherseits weiß. Es waren… Belgier.

Vor ein paar Tagen rief mich dann meine Mutter an. Sie hat deutlich mehr Verbindungen zur Verwandtschaft, verbringt im Alter viel Zeit in St. Vith. Da gibt es Onkels und Tanten, Cousins und Cousinen. Und eben Reini, der sich immer noch mit der Familiengeschichte beschäftigt. Mutti erzählte mir, dass Reini im Magazin eines historischen Vereins der Gegend einen Artikel veröffentlich hätte, den sie mir gerne mal schicken würde. Heute morgen war er in der Post und ich habe ihn für euch gescannt.

ÜberschriftDas ist nicht mein Großvater. Es ist mein Urgroßvater. Ein Mann, von dem ich bis heute noch rein gar nichts gehört hatte. Zeit, das nachzuholen.

Der Artikel, den Reini geschrieben hat, ist so faktenreich wie familiär, zeigt den kleinen Ausschnitt im Großen Krieg, das hilflose Rädchen, das sich die Seite nicht aussuchen konnte, für die es sich drehen musste. Und er hat mir gezeigt, dass mein Großvater seinen Namen nicht aus Zufall trug.

Es hat Tradition, die Männer in meiner Familie Nikolaus zu nennen. Schon der erste Stammvater, den Reini dokumentiert fand, hieß so. Es war allerdings nicht üblich, den Namen direkt an den Sohn weiter zu geben. Sonst hätte es ja auch zuviel Verwirrung gegeben. Aber dazu gleich mehr.

Nun weiß ich also, wie mein Urgroßvater vor 100 Jahren aussah:

Nikolaus Plotes

Das langgezogene Gesicht, das große aber weiche Kinn – ja, ich sehe da eine Familienähnlichkeit, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

Garderegiment zu Fuß? Was für ein scheiß Job.

Mein Großvater musste für die Deutschen an die Front. Von der Familie mit vier Kindern getrennt (ein fünftes unterwegs), sollte er von Berlin aus gegen den Feind im Osten ziehen.

Es braucht euch nicht interessieren. Was geht euch ein belgischer Grenadier an, der vor 100 Jahren gegen den Russen marschierte? Nicht mal eine Fußnote der Geschichte. Keine Spuren im Sand. Und doch würde ich euch bitten, den Artikel von Reini zu lesen, weil er nicht nur von meiner Familie erzählt, sondern auch von einem Schicksal, das so sicher Tausende Male durchlitten wurde:

Lauftext Jetzt weiß ich, warum mein Großvater direkt nach seinem Vater benannt wurde – weil es keine Verwechslungsmöglichkeiten gab. Der kleine Nikolaus hat Nikolaus senior nie gesehen, der Vater seinen Sohn nie gehalten. Die Grausamkeit des Krieges offenbart sich für mich in diesen ganz privaten Schicksalen deutlicher als in aufwändigen Schlachtgemälden.

Und noch verzweifelter und hoffnungsloser als der Bericht von Reini ist der Feldpostbrief meines Urgroßvaters, der für diesen Artikel erstmals in die moderne Schrift übertragen wurde. Ich kann euch auch hier nur ans Herz legen, ihn mal in Ruhe zu lesen – versucht, dabei nicht das Schlagen von Stiefeln auf Kopfsteinpflaster zu hören, das Schmieröl der Gewehre zu riechen, das Kratzen der rauen Uniformhose auf der Haut zu spüren:

Plotes Brief

“So Gott will, sehen wir uns bald wieder in der lieben, lieben Heimat” – er hatte noch gut zwei Monate zu leben.

Und plötzlich bin ich doch mehr als ein Dewi, bin ich AUCH ein Plotes. Sehe über den Großvater hinaus, die Familie mit den Kindern bangen, den Hof unbestellt, den Winter als Drohung voraus. Ich begreife mich als Teil einer Geschichte, die viel weiter zurück reicht als die alten Fotos. Hinter den Fenstern auf dem Ölbild vom Luxhof, da war Leben. Leben, das weiter gegeben wurde, an der Wiege UND am Sarg – und am Ende: Ich. Heute. Hier.

Und wieder, wie ich es so gerne tue, stelle ich mir eine Zeitreise ins Jahr 1915 vor, suche den Kasernenhof in Berlin, finde den strammen schlanken Mann, wie er seine Stiefel wichst, auf einem umgedrehten Zinkeimer sitzend. Ich hocke mich hin, wir nicken einander zu. Er weiß, woher ich komme. Keine Ahnung wieso, aber er weiß es. Und er ist klug genug, nicht nach seinem Schicksal zu fragen, von dem er weiß, dass ich es kenne.

“Meine Frau…?”

Ich lächle so mild mir das möglich ist.

“Hält sich tapfer. Zur Weihnacht hast du noch einen Sohn.”

Er zu stolz, um zu weinen, aber es ist ein Kampf. Wie zur Ablenkung legt er die Bürste beiseite und zerrt er die glänzenden Stiefel über Unterschenkel.

“Ein guter Junge?”

Bilder meines Großvaters flackern in meinem Kopf auf.

“Ein guter Junge, ein aufrechter Mann, ein anständiger Vater.”

Nikolaus muss jetzt lachen – so weit hatte er nicht gedacht.

“Enkel?”

“Und Urenkel.”

Er blickt mich an, hat mich erkannt. Im Hintergrund schreit ein Offizier, Unruhe treibt die versprengten Soldaten auf die Füße. Zwei, drei Sekunden, dann steht Nikolaus auf und reicht mir die Hand.

“Es ist Zeit für mich.”

Ich nehme die Hand, zum ersten und zum letzten Mal.

“Für mich auch.”

Er geht, das Gewehr über der Schulter. Dann dreht er sich doch noch einmal um und zieht umständlich eine Postkarte aus der Rocktasche.

“Die habe ich heute morgen noch geschrieben. Ein paar Worte für Maria und die Kinder. Gibst du sie für mich bei der Post ab?”

Ich nicke, obwohl ich weder weiß, wo hier ein Postamt ist, noch wie ich eine Briefmarke im Berlin des Jahres 1915 bezahlen soll. Es ist auch egal – es ist mein Wunsch, meine Realität. Und so wird die Karte ankommen und noch hundertfach gelesen, bevor sie in der kleinen Blechkiste landet, die Sohn Nikolaus in den 50ern mit nach Düsseldorf nimmt.

Postkarte 1

Postkarte 2 Ich möchte noch etwas Bewegendes sagen, etwas Profundes, aber Grenadier Nikolaus Plotes ist schon außer Hörweite und die Wirklichkeit dieses drückenden Sommertages verschwimmt bereits.

Bevor ich in meine Zeit – meine Welt – zurückkehre, muss ich seltsamerweise daran denken, dass in München jetzt gerade die kleine Rosel eingeschult wird. In fast 100 Jahren wird sie meine Nachbarin sein – und eine erstaunlich direkte Verbindung in die Zeit meines Urgroßvaters.

Dann schüttel ich den Kopf, finde mich albern und sentimental zugleich – und wundere mich, wie aus einem dokumentarisch angedachten Blogbeitrag über Artefakte aus den Schubladen meiner Großtanten wieder so ein melodramatischer Kappes werden konnte. Ich denke einen Moment lang darüber nach, den fiktiven Kram im letzten Drittel wieder zu löschen. Dann lasse ich ihn drin, klicke auf “speichern” und beschließe, dass nun ein Glas Wein angebracht ist.



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reptile
reptile
29. Juni, 2015 09:11

Sehr schön! Erstaunlicherweise stammt meine Familie auch aus ST. VITH! Dort war ich als Kind vielleicht 2-3 mal.

McCluskey
McCluskey
29. Juni, 2015 12:15

Sehr bewegend, vielen Dank fürs Teilhaben lassen. Meine private Ahnenforschung liegt seit geraumer Zeit etwas auf Eis, aber als ich vor einigen Jahren im hiesigen Stadtarchiv die amtliche Sterbeurkunde meines Urgroßvaters fand, der 1930 mit nur 44 Jahren an Krebs starb, war mir auch ganz anders, auch als ich zwei Todesanzeigen von ihm aus den Mikroverfilmungen der Lokalzeitungen im Stadtmuseum fischen konnte. Meine Uroma, die ich als kleiner Bengel noch als herzensgute, vitale Frau erlebt habe, hat ihren Mann um volle 48 Jahre überlebt und nie wieder geheiratet. Ihr Sohn starb 1985 mit nur 63 Jahren und auch dessen Witwe – meine Oma väterlicherseits – ist danach fast 30 Jahre bis zu ihrem Tod allein geblieben. Das bringt einen in dieser schnelllebigen Zeit doch zum Nachdenken.

Steffen
Steffen
29. Juni, 2015 12:47

Eine schöne Geschichte. Wo ich das so las, musste ich direkt an meine Schwiegergroßeltern denken, die im Krieg auch sehr viel durchgemacht haben. Meinen eigenen Opa konnte ich selbst nicht mehr fragen (bzw. habe mich damals nie getraut), aber bei meinem Schwiegergroßeltern habe ich noch die Gelegenheit, etwas aus dem Leben in Kriegszeiten zu erfahren. Und mich vielleicht mal mit meinem eigenen Stammbaum zu beschäftigen.
Ich sollte das wirklich mal tun. Die Zeit vergeht viel zu schnell.

comicfreak
comicfreak
29. Juni, 2015 13:13

*schnüffz*

tbee
29. Juni, 2015 13:51

Schöner Artikel
Wer noch tiefer in ein Einzelschicksal im WKI eintauchen möchte dem sei das Tagebuch Blog http://www.vierzehnachtzehn.de/ empfohlen
Hier wird nach und nach das Tagebuch von Ernst Pauleit veröffentlicht – “freue” mich auf jeden Eintrag….

Christian
29. Juni, 2015 23:15

Vielen Dank für diesen sehr persönlichen Einblick – stimmt nachdenklich. Toll geschrieben!

Christian
29. Juni, 2015 23:21

P.S.: – tbee, danke für den tollen Link!

Dietmar
Dietmar
29. Juni, 2015 23:36

Es ist erschütternd, wie nahe man durch solche Zeilen den Leuten von damals und ihren Schicksalen kommt. Es ist weit weg, denkt man, aber eigentlich auch nah. Mein Großvater hat beide Kriege mit- und überlebt. Vom ersten hat er nie geredet, wo er eingesetzt war, hat niemand erfahren. Im zweiten war er bei der Waffen-SS. Mir wird ein ewiges Rätsel bleiben, wie ein Mann wie er, den ich immer als aufrecht, ehrlich, humorvoll, gutmütig und tatsächlich tolerant erlebt habe (den sehr südländischen damaligen Freund meiner Schwester hat er förmlich in sein Herz geschlossen), nur da hin gekommen ist. Er hat jedenfalls unter den Erlebnissen sehr gelitten, was sich vor allem nachts bemerkbar machte. Zwei Generationen zurück und ich lande im Vor-vorigen Jahrhundert.

Die Sorge und die Angst um die Familie ist in diesem Feldpostbrief förmlich greifbar. Der Gedanke, dass es so etwas eigentlich täglich heute in verschiedenen Krisengebieten gibt, ist eigentlich unfassbar.