28
Jan 2015

Mit Google Maps den Blick zurück wagen

Themen: Film, TV & Presse |

Man verzeihe mir die Melancholie, die einige meiner Beiträge dieser Tage vielleicht durchzieht. Es muss auch solche Zeiten geben, da man innehält und Rückschau, mit der Frage an das Morgen auch die Frage an das Gestern stellt.

Nachdem ich so begeistert von dem TV-Bericht über das alte München berichtet habe, empfahl mir Kai Meyer die Dokumentation “München – Geheimnisse einer Stadt” von Dominik Graf und Michael Althen. In der Tat: Eine hypnotische Meditation über das urbane Prinzip, die aus dokumentarischen Details der Vergangenheit eine Utopie bastelt, ein literarisches Essay von schleichender, aber tief dringender Kraft mit einem verblüffenden, dennoch plausiblen Plädoyer für die unverwirklichten Pläne der Nazis in Sachen Germania. Manchmal verliert sich das Zweistundenwerk etwas zu sehr in fiktionalen Narrativen, aber es lohnt doch. Sehr.

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Durch die Doku erfahre ich auch zum ersten Mal vom “Schwabylon“, einem bizarren, fast anime-esken Vergnügungstempel in Schwabing, der 1973 eröffnet wurde, nur um 1974 schon wieder pleite zu gehen:

schwabylon

Der Bau wird in der Derrick-Folge “Ein Koffer aus Salzburg” mehrfach gezeigt. Ich habe zum Jahrtausendwechsel gerade mal 100 Meter davon entfernt gewohnt, das gesamte Gelände wird gerade für ein völlig neues Viertel platt gemacht.

Ja, ich bin derzeit ein wenig monacophil. Über den Kaufhaus-Block an der Silberhornstraße, wie er 1969 als “kepa” entstand und 2010 als “Hertie” endete, habe ich ja gestern schon geschrieben. Es folgte die Idee, ihn mir noch mal bei Google Maps von oben anzusehen.

Zu meiner Überraschung zeigt die Draufsicht brandneues Fotomaterial von 2015 mit dem neuen Block aus Geschäften, die den alten Klotz ersetzt haben:

silberhorn Damit ist das alte kepa-Haus auch auf Google Maps aus der Geschichte getilgt. Oder?

Ich scrolle gerade mal einen Bildschirm zu meinem Haus weiter. Es ist schneeweiß, man sieht nichts von den Bauarbeiten, die drinnen gerade stattfinden – auch die blaue Graffiti-Schmiererei an der Hauswand ist aus der Vogelperspektive nicht auszumachen.

Um genauer hinzuschauen, schalte ich auf Streetview um – es ist ein kleiner Schock:

Das Haus ist wieder sandfarben, im Hintergrund sieht man meinen Aygo – den habe ich noch. Aber da steht auch mein himmelblauer Roller, den habe ich vor drei Jahren unter viel Seelenschmerz abgegeben.

Es ist ein merkwürdiger, fast irrealer Blick in die Vergangenheit. Die Hausfarbe und der Wagen legen die Aufnahme ziemlich exakt auf Mai 2008 fest. Damals war mein Blog jung, ich war solo, hatte gerade den zweiten Nibelungen-Roman geschrieben und freute mich auf die Dreharbeiten von “Dr. Hope“. Ähnlich wie bei der Geschichte in Irland meine ich fast, hinter den Fenstern in diesem Bild noch den 39jährigen Torsten erahnen zu können, wie er sich die Tage mit Fischfilet und Kartoffelchips vertreibt und als einziges Haustier seine Schildkröte Marlowe in der Badewanne füttert.

Das alles heute noch als aktuell auf Google Maps zu sehen – seltsam.

Ich reiße mich los, schlendere per Streetview weiter durch Obergiesing 2008. An der Kreuzung gleich gegenüber sehe ich den Italiener, bei dem ich mal eine furchtbare Pizza gegessen habe:

italiana

Im Laufe der zehn Jahre, die ich in meinem Haus gewohnt habe, sind hier bestimmt zehn Restaurants gekommen und gegangen. Zuletzt ist ein Vietnamese schon nach ein paar Monaten gescheitert. Ich habe drüber geschrieben. Mittlerweile hat man endlich eingesehen, dass Gastronomie hier keine Chance hat – eine preisgünstige Klamottenkette hat die Räunlichkeiten bezogen.

Da ist “Heli’s Backshop”, in dem ich morgens meine Käsesemmeln gekauft habe und dessen Besitzer immer zu einem netten Plausch bereit stand. Meine Leser wissen, dass mir dort die Verkäuferinnen gefallen haben:

Heli

“Heli’s Backshop” gibt es nicht mehr. Jemand anders hat den Laden übernommen. Kein Plausch mehr, keine hübschen Verkäuferinnen mehr.

Und klar, der Kreis schließt sich:

hertie Der Block steht nicht nur noch – der Hertie hat auch noch auf. 2008 war man der Überzeugung, diese Filiale sei zu retten, weil sie Gewinn abwarf. Ein Irrtum.

Ich mache den Sprung in meine Heimatstadt Düsseldorf. Da ist das Haus, in dem ich eine kleine Wohnung besitze, deren Renovierung meine Leser zeitnah miterleben durften:

richard

In DIESER Version des Hauses ist noch nichts renoviert, die Wohnung im zweiten Stock gehört mir nicht einmal. Aber dafür wohnt Frau Vossen dort, seit 30 Jahren. Und im Erdgeschoss sitzt noch meine Tante Monika, raucht und schaut fern. Sie hat die Diagnose noch nicht bekommen.

Es ist so nah, als könnte ich ans Fenster klopfen und ihren Namen rufen.

Natürlich ist es aus ganz pragmatischen Gründen bedauerlich, dass Google wegen des Ärgers in Sachen Datenschutz keinen Drang verspürt, die Streetview-Aufnahmen zu aktualisieren. Aber irgendwie ist das auch schön – hier wird ein “moment in time” festgehalten, ein Schnappschuss, der durch die mangelnde Aktualität an Geschichte gewinnt. Weil mit dem Bild auch die Erinnerungen bleiben.



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S-Man
S-Man
28. Januar, 2015 09:48

Hi bzgl. der Nicht-Aktualisierung: Aktuell sind die Googlefahrzeuge wieder unterwegs in Deutschland. http://www.tomshardware.de/google-street-view-autos,news-251769.html

Gruß

Wortvogel
Wortvogel
28. Januar, 2015 10:03

@ S-Man: Ja, aber:
“Die gesammelten Bilder sollen nicht veröffentlicht werden; stattdessen sollen die Fahrten ausschließlich der Informationsbeschaffung dienen.”

Wortvogel
Wortvogel
28. Januar, 2015 10:08

Man stelle sich das aber mal konsequent weitergedacht vor: 100 Jahre lang sammelt Google immer neue Streetview-Daten – und erlaubt auf Maps, nicht nur die aktuellen Versionen zu sehen, sondern auch die früheren. Und nun stelle man sich vor, man hätte das die letzten 100 Jahre schon gemacht: Dann könnte man heute virtuell durch das Kaiserreich wandern, durch die Weimarer Republik, Nazi-Deutschland, die Trümmer des Krieges…

Mic
Mic
28. Januar, 2015 13:49

Bei Beiträgen wie diesen merke ich, wie lange ich dieses Blog schon verfolge. Ich ertappte mich gerade bei Gedanken wie “Marlowe ist echt schon so lange tot?” und “die Sanierung des Altbaus war eine sehr spannende Sache!”.

An dieser Stelle also einfach mal, ganz unmelancholisch, ein Dankeschön für viele Jahre hervorragender Blog-Beiträge!

Wortvogel
Wortvogel
28. Januar, 2015 15:24

@ Mic: Da sage ich mal Dankeschön zurück – Lob hört man immer gern.

Baumi
Baumi
28. Januar, 2015 17:04

Google Earth bietet zumindest in der Satellitenansicht noch mehr Nostalgie. Es gibt da einen kleinen Button, mit dem man zu älteren Bildern zurückspringen kann. Für München geht das bis zum November 2000, für andere Städte zum Teil noch weiter. (Für Düsseldorf etwa sind auch (alliierte?) Luftaufnahmen aus dem Jahr 1943 verfügbar.

S-Man
S-Man
28. Januar, 2015 17:57

Es gibt irgendwie die Möglichkeit zumindest bei Luftbildern diese Zeitleiste zu bekommen. Mir fällt aber nicht mehr ein, wo ich das mal genutzt hatte. Ich würde sagen direkt in Google Earth… Bin aber gerade unterwegs, bei Interesse suche ich das gern mal die tage raus.

S-Man
S-Man
28. Januar, 2015 18:01

Es gibt irgendwie die Möglichkeit zumindest bei Luftbildern diese Zeitleiste zu bekommen. Mir fällt aber nicht mehr ein, wo ich das mal genutzt hatte. Ich würde sagen direkt in Google Earth… Bin aber gerade unterwegs, bei Interesse suche ich das gern mal die tage raus.

Edit: Ah, Baumi hat es schon verifiziert. Ich sollte erst alle Kommentare lesen 🙂

Dietmar
Dietmar
29. Januar, 2015 00:04

“Heli’s Backshop” gibt es nicht mehr.

Und er hieß “Hellis Backshop”. 😉 (Korinthen-Verdauungs-Rückstände …)

Ich bin dem Link gefolgt und musste wieder über die Geschichte um die graugraugraue Frau und entsprechende Kommentare lachen.