03
Jan 2014

Zwischenstopp

Themen: Neues |

Ich habe vor drei Tagen in einem großen Zeitschriftenladen einer proportional nicht minder großen Stadt folgenden „rant“ mit angehört, der mich etwas hilflos zurück ließ.
Die Situation: ein kleiner älterer Mann mit strähnigen Haaren und sichtlich schlechten Zähnen, gekleidet in eine quietschgelbe, verschmutzte Regenjacke und mit einer dieser Taschen aus LKW-Plane bewaffnet, die Fahrradkuriere gerne verwendet, redet lautstark auf einen jüngeren Mann vermutlich indischer oder pakistanischer Herkunft ein, der eigentlich nur die Zeitschriften mit den Regalen auffüllen und sortieren will. Er ist laut und aggressiv, aber weniger gegen den Angestellten, sondern aus Frust, nicht verstanden zu werden.
Das hier mag nicht exakt sein, ist aber ziemlich wortgetreu – auch wenn die Leerzeichen zwischen den Worten implizieren, der Schwall wäre an irgendeiner Stelle unterbrechbar:

„Es gab 450 Nobelpreise in den naturwissenschaftlichen Kategorien in den letzten 50 Jahren. Wissen Sie, wie viele die Juden davon bekommen haben? 150. Das sind 150 mal so viele wie der Durchschnitt. Und noch 15 mal so viele wie die Deutschen! Ich habe meinen Professoren immer gesagt: Sie müssen ganz still sein, ich bin nämlich viel klüger als Sie. 1000 Jahre Bescheidenheit müssen Sie mir entgegenbringen. Weil Sie Nazis waren. Alle! 90 Prozent! Die können mit mir nicht mithalten, und das wissen die auch. Wissen Sie, dass Volkswagen der größte Konzern der Welt werden will? Aber das werden die nicht schaffen. Ich werde das nicht zulassen. Ich werde auch nicht für die arbeiten. In Israel haben die sich was geleistet – nein, nicht früher, neulich erst. Passen Sie mal auf…”

Das geht so weiter, immer weiter, immer wieder mit der groben Überleitung “Wissen Sie?”. Er wirkt getrieben, aber nicht psychotisch oder beschränkt. Er wandelt die Grenze zwischen Wahnsinn und Wahnwitz. Ich gehe weg, obwohl mein Instinkt mich zu einer Einmischung mit der loriot’schen Einleitung „Moooment!“ drängt. Die Sache würde eskalieren, keine Frage. Weil jede Kritik sofort als Bestätigung der gerade vorgebrachten Vorurteile dienen würde. Weil ich ja auch einer von „denen“ bin, die 1000 Jahre Bescheidenheit üben sollen.
Andererseits: Es widerspricht meiner Natur, so etwas einfach stehen zu lassen. Weil ich beweisen will, dass man sich gegen abstruse Verallgemeinerungen auch wehren kann, ohne gleich Rassist oder Antisemit oder Sexist zu sein.
Als ich fünfzehn Minuten später mit einem Freund an dem Laden noch einmal vorbei komme, steht der ältere Mann immer noch da und redet weiter auf den jüngeren ein. Der jüngere Mann schwankt sichtlich zwischen angestrengter Höflichkeit und Verzweiflung.
Ich reiche mangels ausreichender Antwort die Frage an euch weiter: was tun?



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Exverlobter
Exverlobter
3. Januar, 2014 16:52

Ich hätte es ganz kurz gemacht, ohne mich auf eine große Diskussion mit ihm einzulassen.
“Sie argumentieren wie Sarrazin. Nur mit umgekehrten Vorzeichen.”

Tante Jay
3. Januar, 2014 17:01

Ich hätte ihn gefragt, warum ich persönlich Bescheidenheit hätte üben sollen. Und ihn gefragt, was ich hätte damals anders machen sollen/müssen.
Und irgendwann hätte ich ihm mein Geburtsjahr gesagt. Und ihm erklärt, dass ich mich nicht auf die “Gnade der späten Geburt” berufe wie weiland Kohl, dass ich aber auch nicht in Sack und Asche gehe für Verfehlungen, die meine Vorfahren irgendwann mal begangen haben.
Die Ereignisse im Dritten Reich haben mich genug geprägt, dass ich bei Antisemitischen Äußerungen sofort die Ohren spitze und gegenhalte. Wer “die Juden” beschimpft, wer irgendwelches Rechtes Gewäsch von sich gibt und doofe Kampfparolen, darf von mir kein Verständnis erwarten.
Das gilt aber für alle, die besondere Rücksichtnahme aufgrund einer genetischen Besonderheit erwarten.
Gibts nicht. Aber dafür den Schutz der jedem zusteht.
Und ja, ich neige dazu, solche Situationen dann eskalieren zu lassen 😉

milan8888
milan8888
3. Januar, 2014 17:27

Ich hätte einfach mal gefragt wo denn seine Nobelpreise sind…

Endstille
Endstille
3. Januar, 2014 18:05

“entschuldigung, arbeiten sie hier? -keine pause-
wo finde ich die pornos für gleichgeschlechtlichen sex?”

Wortvogel
Wortvogel
3. Januar, 2014 18:07

@ Endstille: Wirksamer wäre vielleicht: “Wo haben Sie denn hier die Landser-Heftchen?”

PabloD
PabloD
3. Januar, 2014 18:15

Ich wäre wohl nicht über 2 Fragen hinausgekommen:
1. “Das sind 150 mal so viele wie der Durchschnitt.” – Was denn für ein Durchschnitt? 1 Nobelpreis pro Land? Pro Religion? Was mich automatisch zur zweiten Frage bringen würde:
2. “Und noch 15 mal so viele wie die Deutschen!” – Wieso vergleicht er Religionen mit Nationalitäten? Und nicht z.B. Rothaarige Linkshänder mit Südamerikanern unter 45Jahren? Wäre schließlich genauso sinnvoll. Und worunter fallen eigentlich deutsche Juden wie Fritz Haber?
Aber eigentlich will man die Antworten von solchen Leuten meistens gar nicht hören…

Alex
Alex
3. Januar, 2014 18:54

Viel spannender fände ich die Frage, warum jener Mann sich genötigt sah, so einen Monolog zu starten. Juden sind (aus meiner Sicht völlig zu recht) eher dünnhäutig gegenüber Kommentaren, die auf Relativierung hinaus laufen.
Als Übung, wie man reagieren könnte, wäre zu Übungszwecken mal eine Antwort auf entsprechende Artikel von Broder bei der Achse des Guten.
“Sie argumentieren wie Sarrazin” halte ich persönlich übrigens für die dämlichste aller möglichen Antworten.

Tante Jay
3. Januar, 2014 18:58

Hnnnnnnnnnngnaaaaaaaaaaa er hat das böse Wort gesagt. “Broder”…brrrr…

Karlos
Karlos
3. Januar, 2014 20:12

Wehn meine er denn mit “Juden”? Den Glauben, den Staat oder die Rasse?

Andi
Andi
3. Januar, 2014 20:14

Es ist absolut sinnlos mit Verschwörungstheoretikern, gleich welcher Couleur, sachlich diskutieren zu wollen.
Da bleibt nur: Wundern, amüsieren und abspeichern, falls man das mal für irgendeine Geschichte verwenden will.

Fake
Fake
3. Januar, 2014 20:15

@Wortvogel
Die Landser Hefte wurden vergangenes Jahr eingestellt. 😉

Jott
3. Januar, 2014 20:18

Ihr versucht alle, dem mit Logik zu begegnen…
Das wird nicht funktionieren.
Er klingt eher nach jemandem, der sich eine Auszeit unter ärztlicher Aufsicht gönnen sollte.

Howie Munson
Howie Munson
3. Januar, 2014 20:29

@ Wortvogel (5): Hättest ja auch Konsumforschung in Sachen Landidyll-Zeitschriften machen können, dass wäre dem Angestellten wohl lieber gewesen und dem Nobelpreisträger zu langweilig…
Eine echte Debatte hätte meiner Meinung nach nur geringe Aussicht auf Erfolg gehabt. Weder kann man den einen Überzeugen noch dem anderen Ruhe verschaffen.
@Alex (7): Sarrazin argumentiert halt auch damit, das gewisse Menschengruppen aufgrund ihrer Herkunft/Abstammung über- bzw unterlegen sind. Wie soll man sonst den “Meine Jungs gewinnen Nobelpreise, also sind deutsche Professoren dümmer als ich” deuten?
@PabloD (6): Google findet dazu auch noch ganz andere logische Fehlleistungen, die darauf beruhen das “20% der Weltbevölkerung islamisch sind und nur 8 Nobelpreise” bekamen…
Lustig das die noch nicht nachgeschaut haben wie wengie (in China lebende) chinesische Wissenschaftler eine Nobelpreis bekamen und die fliegen mittlerweile trotzdem zum Mond…

Wortvogel
Wortvogel
3. Januar, 2014 20:49

@ Fake: Weiß ich – genau DAS hätte dann Aufhänger einer entspannteren Diskussion sein können.

saiki
saiki
3. Januar, 2014 21:39

Einfach mal fragen, was religion mit wissen zu tun hat. Alle weltreligionen und nischenreligionen konnten noch nicht Klären, ob es gott gibt.

Marcus
Marcus
3. Januar, 2014 22:16

@PabloD:
“Das sind 150 mal so viele wie der Durchschnitt.”
Ich hab es auch fünf mal gelesen und kapier es immer noch nicht. Und normalerweise kann ich Mathe.

Howie Munson
Howie Munson
3. Januar, 2014 22:58

@Markus: Ich fürchte es sind einmal 500 pro 7000* (0,0714 pro Million) und einmal 150 pro 15* (10 pro Million) gemeint… jedenfalls komm ich dann auf 140mal (10/0,071) “besser”… Je nachdem von welche Gesamtzahl von Nobelpreis und Weltbevölkerung ausgegangen wird, kann da rund 150 bei rauskommen…
*=die 6 Nullen hab ich mir mal jeweils gespart…

Marcus
Marcus
4. Januar, 2014 00:48

@Howie: I am impressed. And even more confused. 😀

gerrit
gerrit
4. Januar, 2014 03:28

3 mal 0 is 0 bliev 0…

John Lenin
John Lenin
4. Januar, 2014 16:48

Mit Manikern und/oder Paranoikern zu diskutieren, scheint mir eher aussichtslos – das klingt mir zu klinisch, als dass man da mit Argumenten etwas bewirken könnte.

comicfreak
comicfreak
4. Januar, 2014 18:13

..ich wäre geflüchtet, mir reicht es schon, wenn ich mir im Geschäft so einen Endlossermon von Kunden anhören muss und dazu freundlich durchlächle..
In der Freizeit könnte ich dann nicht garantieren, nicht übertrieben zurück zu schlagen. Immer schlechte Voraussetzungen..

Peroy
Peroy
4. Januar, 2014 19:38

Ich hätte nix gemacht. Im Grunde hat er ja recht, der bekloppte, alte Mann…
Wenn er jetzt aber z.B. gesagt hätte dass die Bücher von Stieg Larsson unglaublich gut sind oder sowas hätte ich ihm sofort die Fresse eingetreten…

Exverlobter
Exverlobter
5. Januar, 2014 16:39

“Die Landser Hefte wurden vergangenes Jahr eingestellt”
Auf Druck einer jüdischen NGO btw, das passt ja vielleicht zum THema.

martin däniken
martin däniken
6. Januar, 2014 14:45

Eine wichtige Sache vieleicht die wichtigste:
Bei endlos Monologissierer von mir auch Moderatoren genannt funktioniert Logik nicht! Dann nur ansprechen wenn man (noch) gut gelaunt ist,sonst wird die Stimmung echt schlecht.Dann sich etwas einfallen lassen um den Typ aus dem Tritt zubringen,was zum Nachdenken-“Ob er noch die Bürgschaft von Schiller drauf hätte,es ginge um eine Wette?!” Dann ne Geschichte um die Wette erfinden und wenn der Typ nach Hause kommt und in den Spiegel kuckt und sagt “In der Stadt laufen aber bekloppte junge Leute herum!!!” ist der Tag gerettet.

Lothar
Lothar
16. Januar, 2014 15:02

> der eigentlich nur die Zeitschriften mit den Regalen auffüllen und sortieren will.
D.h. die alten IKEA-Kataloge durch die neuen ersetzen? 😉
SCNR, Lothar