04
Okt 2013

Book Porn: Vom Charme böser Bücher

Themen: Film, TV & Presse |

Ich habe immer noch keinen eBook-Reader. Vielleicht schaffe ich mir demnächst einen an, die Gerätepreise fallen ja ins Bodenlose. Oder ich kaufe mir ein Tablet, was zumindest als eBook-Reader einsetzbar ist. Wichtig, weil ich auch Farbe will (wegen Comics und Zeitschriften). Egal, ist jetzt gar nicht Thema.

Ich habe schon mal erwähnt, dass ich auf geschätzte 95 Prozent meiner Bücher verzichten würde und könnte, wenn sie in digitaler Form, ohne DRM, und ordentlich formatiert vorlägen. Bücher sind für mich kein Wert an und für sich. Content is King.

Aber es gibt natürlich Ausnahmen. Bücher, die meinen Fetisch bedienen, die dick sind und prächtig gedruckt. Bei denen es eine Lust ist, sie anzuschauen, sie in die Hand zu nehmen, die Seiten vorsichtig umzublättern. Das können prächtige Fotobände sein, Comic-Sammlungen im Schuber, oder der neuste Taschen-Wälzer über die Geschichte der Zauberei.

Es gibt noch eine Steigerung: Bücher, die nicht nur großartig aussehen, sondern auch noch Seltenheitswert haben, weil sie nicht mehr gedruckt werden. Denen man nachspüren muss, die einen mitnehmen in unwiederbringlich (und manchmal glücklicherweise) verlorene Welten.

Book Porn.

Schon vor zehn Jahren habe ich bei Ebay einen Nachdruck von Frederic Werthams Anti-Comic-Tirade “Seduction of the Innocent” ersteigert – mittlerweile kann man das bahnbrechende Werk online kostenlos lesen. Es ist kein Zufall, dass gleich einer meiner ersten Blogbeiträge vor knapp sieben Jahren einen Band aus einer Reihe von DDR-Jugendbüchern vorstellte. Oder dass ich Bücher mit “Raumbildern” aus der Nazizeit besprochen habe. Sachen eben, die man nicht so leicht auf seinen Kindle-Account laden kann.

Das erste Mal in den Genuss von Book Porn kam ich im Alter von ungefähr zehn Jahren. Da besuchten wir in Belgien einen Teil der Familie, der mir praktisch unbekannt war (mütterlicherseits stammen wir aus St. Vith). Ich traf meinen Urgroßvater und den Bruder meines Großvaters, Joseph. Er schenkte mir zum Abschied etwas, mit dem ich zuerst gar nichts anfangen konnte: meinen ersten Schuber.

japprends1Erst zuhause konnte ich mir mühsam erarbeiten, was ich da in der Hand hielt – einen Sprachkurs. Für belgische und französische Kriegsgefangene, die nach dem Ersten Weltkrieg Englisch lernen wollten:
japprends2 Mich faszinierte, wie gut erhalten die Sammlung war: Alle 40 Hefte komplett, keinerlei Beschädigungen. Und obwohl der Kurs damals schon mehr als 50 Jahre auf dem Buckel hatte, wirkte er viel moderner, als ich das mit meiner vom “Haus am Eaton Place” beeinflussten Kinderphantasie erwartet hatte: da gab es gezeichnete Witze und sogar Kreuzworträtsel!

Dieses Geschenk meines Großonkels, der schon lange nicht mehr unter uns weilt, ist nicht durch eine digitale Kopie zu ersetzen. No way.

Ich habe auch noch andere Bücher hier stehen, die ich euch vorstellen möchte und die größtenteils ein “Gschmäckle” haben, weil sie aus einer Zeit oder aus Umständen heraus entstanden sind, die heute so nicht mehr denkbar wären. Leider geben Fotos und Scans die wahre Pracht dieser Bände nicht wieder – denkt sie euch einfach schöner, als sie hier zu sehen sind. Ich habe die Seiten so hochauflösend abfotografiert, dass interessierte Leser auch die Texte entziffern können.

Auffallend ist dabei, wie viele Bücher bis in die 40er Jahre gleichzeitig Sammelalben waren, vergleichbar mit den heutigen Panini-Heftchen. Man kaufte das Buch “leer” und füllte es dann nach und nach mit bunten Bildern, die man in Kaugummi- und Zigarettenschachteln fand. Das hatte (neben den zusätzlichen Profit für die Verleger, der an heutige “Free2Play“-Spiele erinnert) den eminenten Vorteil, dass die Bücher auf recht preiswertem Papier und in schwarzweiß gedruckt werden konnten, weil nur die Bilder farbig und glänzend sein mussten.

Ein recht typisches Beispiel ist dieser Band, der Abenteuerbuch und Werbung für den Tierpark Hagenbeck zugleich darstellt. Ich habe ihn von meinem damaligen Ko-Autor geschenkt bekommen, als ich für eine historische Hagenbeck-Miniserie recherchiert habe (die sich leider als unfinanzierbar herausstellte):
Hagenbeck1Das Vorwort gibt einen schönen Eindruck davon, mit welchem Anspruch und für welche Zielgruppe diese Art Buch gemacht war:
hagenbeck3 Liest man sich in die knalligen Texte über den Mut der Tierfänger ein, riecht man Karl May, hört man Indiana Jones, sieht man Tarzan. So geschönt die Berichte vom “schwarzen Kontinent” und dem Dschungel am Amazonas auch sein mögen, so sehr nehmen sie den (jugendlichen) Leser doch mit, beflügeln die Phantasie, lassen ihn staunen und träumen:
Hagenbeck2 Auf dem gleichen Kontinent, aber mit noch fragwürdigerer Narrative spielt ein Band über die deutschen Kolonien, den ich ebenfalls zu Recherchezwecken angeschafft habe. Das Cover ist den Preis schon wert, mit Goldlack und geprägten Verzierungen:
kol1 Im Innenteil ein ähnliches Bild wie bei Hagenbeck – die fremde Welt wird als gefährlich und unterentwickelt dargestellt, eine sportliche Herausforderung für den überlegenen Herrenmenschen von 1936:
kol2 Nun kann man zu Recht fragen, ob es nicht sinnvoller ist, für ein Fiction-Projekt, das in Afrika zu Zeiten der Kolonien spielt, moderne Quellen heran zu ziehen, die einen wissenschaftlich aufrichtigeren Einblick in die Zeit erlauben. In der Tat sollte man sich nicht nur auf zeitgenössische Schriften verlassen, aber sie geben einen hervorragenden Einblick in den Habitus der “Eroberer”, in ihre Denkweise. Das ist wichtig, wenn man Figuren authentisch gestalten will.

Deutlich nüchterner, aber als Fenster in die Welt noch viel faszinierender ist dieses Jugendbuch, dessen Entstehung ich mangels Datierung ungefähr auf 1900 schätze:
Reise1Wieder ein toller Golddruck, ein polsterartig mit Kunstleder bezogener Einband. Im Gegensatz zu Klebebild-Alben finden sich in diesem Kleinod seitengroße Schwarzweißfotos von Metropolen und Sehenswürdigkeiten aus aller Welt mit knappen, aber extrem informativen Texten:
Reise2Es lohnt sich, die Lupe hervor zu holen, so exzellent sind die Fotos gedruckt.
Einen verregneten Nachmittag an dieses Buch zu verschenken bedeutet, auf Weltreise zu gehen. Und zwar auf eine Weltreise im Jahr 1900. Kaum vorstellbar, wie sich die Orte verändert haben, wie Frankfurt einst aussah, Hongkong, Sydney. Es macht doppelt Spaß, sich zu vielen Orten per Google aktuelle Bilder zu suchen.

Den schönsten Schatz meiner kleinen Sammlung habe ich erst letztes Jahr über das ZVAB gekauft. Ich habe keine Ahnung, wie ich darauf gekommen bin. Es handelt sich um zwei Bände aus dem Jahr 1936. Beide beschäftigen sich mit der damals noch jungen Geschichte des Films. Band 1 deckt den Stummfilm ab, Band 2 erklärt und präsentiert den Tonfilm.
ton1 Wieder dieser unwiderstehliche Goldlack, diese liebevoll kolorierten Fotos! Vor allem aber: was für großartige, mit Begeisterung und Expertise geschriebene Werke über Filme und Menschen, die vielfach vergessen sind.

Es ist wirklich bemerkenswert, wie sorgsam, knapp, aber dennoch übersichtlich die beiden Bände die Technik, die Geschichte und den “aktuellen” Stand des deutschen Films präsentieren:
stumm2Daneben gibt es Schauspieler- und Regisseurporträts, einen sehr durchdachten Überblick über Genres und Abhandlungen zu Tricktechnik. Über den Daumen gepeilt würde ich sagen, dass 90 Prozent der gelieferten Informationen auch heute noch valide sind und jedem Filmbegeisterten eine exzellente Grundlage bieten.
ton3 Natürlich hat die Sache einen Haken, auf den schon das Erscheinungsdatum 1936 hinweist: die Bücher sind dazu gedacht, den Nationalstolz der Deutschen zu mehren, den deutschen Film als einzigartig und überlegen darzustellen, seine Aufgabe im “neuen Reich” zu präzisieren und zu fordern.

Aber wie auch schon bei den ideologisch geprägten DDR-Jugendbüchern fällt es einem halbwegs gebildeten und kritischen Leser nicht schwer, den Zeitgeist zu subtrahieren oder sich gar über die etwas pathetische Begeisterung für die deutsche Filmkunst zu amüsieren. So wirkt es heutzutage einfach drollig, wenn der Autor darauf besteht, dass die Deutschen so ziemlich jede Technik und jedes Genre zuerst erfunden haben – bei der Vorreiterrolle der Amerikaner in Sachen Tonfilm aber konstatiert wird, dass die Deutschen eben klug genug gewesen seien, die neue Kunstform erst einmal ausgiebig zu studieren, um dann mit umso höherwertigen Werken die Amerikaner gleich zu übertreffen!

Es ist auch auffällig, dass Göbbels’ Diktat in Sachen Filmkunst noch nicht vollständig verinnerlicht war: So wird der Volksfilmer Harry Piel hier noch nicht als der großen Sache unwürdig verunglimpft, und auch einige kritische Kriegsfilme und der Expressionismus werden für ihre künstlerische Klasse gelobt.

Zu den exzellenten Texten gesellen sich viele, viele, viele wunderschöne Fotos aus Filmen, von denen man noch nie etwas gehört hat, die aber so interessant aussehen, dass man gleich einen “Deutsche Klassiker”-Sender fordern möchte, der nur von der Stiftung Deutsche Kinemathek gespeist wird. Ich würde z.B. zu gerne mal “Der Schuß im Tonfilmatelier” sehen…

Es wird schmerzhaft bewusst, dass der Verlust vieler Stummfilme und die selten ausreichend distanzierte Auseinandersetzung mit dem Film im Dritten Reich eine künstliche Verknappung der deutschen Filmgeschichte darstellt, die unter anderen Umständen nicht hinnehmbar wäre und nicht hingenommen würde.

Einschub: Wer sich für das Thema interessiert, dem kann ich das aktuelle Buch “Nazi-Virus im Film” ans Herz legen.

Sind diese Bücher schlechter, weil sie teilweise verachtenswerte Ideen und Ideologien vertreten, weil sie unrettbar an den Zeitgeist gekettet sind? Nein. Im Gegenteil. Durch ihre deutlich erkennbare Prägung besitzen sie Informationswert über den reinen Inhalt hinaus. Sie sind parteiisch, was viel über die Autoren und ihr Umfeld verrät. So kann man in den Filmbüchern nicht nur etwas über die deutsche Filmindustrie lernen, sondern auch über die Techniken propagandistischer Sachbücher.

Wie gesagt: diese Bücher muss man zu lesen wissen. Aber ich habe auch “Mein Kampf”, “Dianetik” und “Die Prophezeiungen von Celestine” gelesen, ohne Schaden zu nehmen. Hoffe ich.



Abonnieren
Benachrichtige mich bei
guest

10 Kommentare
Älteste
Neueste
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
Ben
Ben
4. Oktober, 2013 13:51

Großartiger Artikel, der einem mal wieder Lust auf’s stundenlange Stöbern nach alten Büchern macht.
Und auf eine Reise nach Wien. 😀
Wir haben fast den gleichen Geschmack. Das Buch über die Zauberei (Taschen) hab ich ebenso wie den Tonfilm-Band. 😀

Tante Jay
4. Oktober, 2013 14:11

BOAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAH… *neid*
Ich liebe solche alten Schinken. Mein Vater hat noch die Familienbibel von seinem Urgroßvater, die wird sorgsam gehegt und gepflegt. Und hinten wird jede Generation nach wie vor sorgsam eingetragen.
Da sind auch noch ein paar Schätzchen mehr, Geschichtsbücher, ein Atlas aus dem 19. Jahrhundert noch mit ganz vielen weißen Flächen, die damals noch unerforscht waren.
Wenn ich diese Preziosen der Buchdruckkunst in die Hand nehme, hat man wirklich das Gefühl, die ganze Welt in der Hand zu halten.
Du darfst mich NIE in deine Bibliothek lassen, wahrscheinlich müsstest du mich da mit Waffengewalt wieder entfernen… 🙂

Dietmar
Dietmar
4. Oktober, 2013 15:15

Ich tippe mal Du meinst Karl May, der mit “e” ist der Reinhard.

Wortvogel
Wortvogel
4. Oktober, 2013 15:25

@ Dietmar: Ups. Ist korrigiert. Kurioserweise käme ich nie auf die Idee, May falsch zu schreiben, wenn man mich fragt.

DMJ
DMJ
4. Oktober, 2013 16:27

Das einzige, was mein Regal in der Richtung ziert ist eine alte Ausgabe von “Ich Claudius – Kaiser und Gott” von ’36, in welcher der Autor im Vorwort erklärt, sie sei für die deutsche Fassung gekürzt, da das deutsche Volk momentan zu beschäftigt sei. 😛
Der Hans-Schmid-Empfehlung schließe ich mich an: Noch bevor ich den Buchtipp sah, suchte ich schon den Telepolis-Link zur Artikelreihe “Das Dritte Reich im Selbstversuch” ( http://www.heise.de/tp/artikel/32/32255/1.html ) gleichen Autors, welche Grundlage für das Buch war. 😉

Wortvogel
Wortvogel
4. Oktober, 2013 16:40

@ DMJ: An Schmid stört mich nur die Tatsache, dass er wirklich ALLES durch die braune Brille sieht. Auch wenn man natürlich unterstellen kann, dass selbst der belletristische Unterhaltungsfilm volksstärkende Wirkung haben sollte, so sind die Filme (zumindest bis zum Kriegsausbruch) oft genug erstaunlich frei von offenen und versteckten Zeitbezügen. Wenn man konstatiert, dass es im System keinen unpolitischen Film geben konnte, kann man jeden Film politisch sehen. Ich würde mir aber wünschen, dass auch eine aus dem Umfeld gelöste Betrachtung möglich wird, die zwar die Zeit, aber nicht das politische System reflektiert. Fragt man Wald & Wiesen-Filmfans, ist das Dritte Reich in Sachen Film “Jud Süss”, “Feuerzangenbowle”, “Quex” und “Münchhausen”, einige kennen noch ein paar Titel mehr. Die unglaubliche Fülle an Filmen, die nicht für wissenschaftliche Analysen, wohl aber für Wiederentdeckung taugen, bleiben unter Verschluss.

DMJ
DMJ
4. Oktober, 2013 17:10

Gerade das fand ich hier interessant. Er hängt halt der “die offzielle Ideologie ist immer drin”-These an und betrachtet nach ihr verdächtige wie unverdächtige Filme. Aber unter diesesn Vorzeichen ist er dann recht angenehm unvoreingenommen und scheut sich auch nicht davor zurück, einen zu seiner Zeit sogar “böse gemeinten” Film heute als unbedenklich zu beurteilen, da die kulturellen Bezüge verschwunden sind. Das fand ich mal faszinierend und unüblich.

perseus
perseus
4. Oktober, 2013 20:08

Ich hab hier das “Olympia-Buch 1936 Band II” vorliegen (noch mit Kontrollnummer-Zettel für kostenlosen Ersatz).
Das Dings is echt hochwertig gemacht. Die meisten Fotos sind eingeklebt Schwarz-Weiß, dann gib es aber auch Sonderseiten auf glatterem Papier mit gedruckten Fotos (darunter natürlich ein riesigen Foto wie der Führer den Gruß zur Eröffnung im Stadtion macht) und kolorierten Illustrationen.
Die Bilder zeigen ausführlich Nicht-Deutsche Athleten (mehrfach Jesse Owen) gleichberechtigt und in durchaus sympathischer Form. Der Text ist natürlich vom typischen episch-pathetischen Sermom durchzogen, feiert offen das “erwachte Deutschland”… der unpolitische Sportineressierte kann das Buch aber auch unpolitisch lesen, da es wirklich ausführlichst Daten und detallierte Wettkampfberichte beinhaltet.
Diese Möglichkeit, es unpolitisch zu lesen, entspricht nun freilich aber genau der Intentionen des NS-Regimes hinsichtlich der Olympiade 1936. Die Bilder “lügen” natürlich auch in der Hinsicht, als dass die deutschen jüdischen oder Sportler mit politisch-linkem Hintergrund nicht abbgebildet sind, weil sie halt gar nicht teilnehmen durften.

Frank
Frank
4. Oktober, 2013 21:05

Die Bücher stammen nicht zufällig vom Prüller-Markt in Nümbrecht? Dort habe ich nämlich gestern mindestens zwei jener Bücher auf einem Flohmarktstand gesehen.

Wortvogel
Wortvogel
4. Oktober, 2013 21:10

@ Frank: Nö. Ist aber auch nicht verwunderlich, schließlich sind die Bücher keine Einzelstücke. Die Filmbücher habe ich beim ZVAB gekauft, einige waren Geschenke, “Im Fluge durch die Welt” kommt vom Flohmarkt.