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Mrz 2011

Back to the Jugend mit Christian Kessler – als Porno noch spannend und haarig war

Themen: Film, TV & Presse, Neues |

kess
Zuerst einmal sorry für die Funkstille – familiäre Notwendigkeiten treiben mich derzeit zwischen Marburg und München hin und her, ich bin arg ausgelaugt, und in zwei Wochen steht mein Umzug an (frage niemand, wie ich DAS auch noch schaffen soll). Zu meiner großen Enttäuschung werde ich deshalb auch nicht die Live-Übertragung von Danny Boyles Londoner Theaterstück “Frankenstein” ins Münchner Cinema-Kino miterleben können:

http://www.youtube.com/watch?v=0FEakgJj-uA

Ich verbringe mein Leben derzeit auf Gästebetten, Autobahnen und in Krankenhäusern – Internetanschluss mau, Ende offen. Lebensretter ist momentan mein neues Smartphone, über das ich aber einen eigenen Artikel schreiben werde (der ein Sechs Gänge-Menü von Kreide beinhalten wird).

Am Freitag steuerte ich den Wagen also wieder mal in Richtung A7, dann A3, dann A9. Weil Nachmittag war, simste ich dem Doc Acula, ob er Zeit für einen schnellen Cidre im Irish Pub in Nürnberch habe, dann würde ich dort nämlich Station machen. Er hatte, und ich machte. Allerdings wies er darauf hin, zum Abend gebunden zu sein, weil Kultfilm-Journalist extraordinaire Christian Kessler in der Stadt sei, um sein neues Buch über den US-Pornofilm der 70er Jahre vorzustellen. Das schien mir genau DIE Abwechslung zu sein, die ich brauchte. Also schloss ich mich an.

Schauplatz der Aktion war das Kommkino, in dem bald auch das “Badmovies II“-Trashfestival stattfinden wird. Es sollte um 21.15 Uhr beginnen, aber der Raum war belegt mit einem Vortrag zum Thema “Frauenfilm” – was dann eigentlich auch schon wieder ganz gut passt. Chris Kessler traf ich deshalb vor der Tür. Mit ihm verhält es sich wie weiland mit Kai Meyer: Wir haben einen über 25 Jahre gewachsenen gemeinsamen Bekanntenkreis, ohne uns je getroffen zu haben. Nagi Nagenborg, Evil Ed, Brad Harris: Wir kamen trotzdem schnell ins Gespräch. Ich hatte nun endlich die Gelegenheit, eine Anekdote zu verifizieren, die mir vor 20 Jahren erzählt worden war (von Nagi?). Die ging so:

Als Teenager war Chris Kessler in den 80ern nach Maine gereist und hatte in Bangor kackfrech am Haus von Stephen King geklingelt. Er endete nicht im örtlichen Knast, sondern im Büro des Meisters, nachdem Kings Frau Tabitha ihm einen Tee gemacht hatte. Der Meister hält nämlich strikte Schreibzeiten ein und hatte seine “Schicht” noch nicht beendet. Es war die Zeit, als King “ES” schrieb.

Zu meiner Überraschung bestätigte Kessler mir die Geschichte und fügte noch ein paar bezaubernde Details hinzu.
glass

Irgendwann räumte der Frauenfilm-Verein das Kino, Chris hatte schon zwei Flaschen Bier intus, und die Veranstaltung konnte beginnen. Tatsächlich redet der Splatting Image-Veteran so, wie er schreibt: launig, flüssig, unterhaltsam, faktenreich. Wir erfuhren viel über die Goldene Ära des Pornofilms in den USA, als noch versucht wurde, die Untiefen der sexuellen Darstellbarkeit auszuloten, als viele Künstler und Lebenskünstler sich am Fickfilm versuchten, als der durchformatierte Standard-Koitus noch nicht erfunden war. Es dominierten drogengeschwängerte, selten wirklich erotische Pornophantasien mit Schweiß und Achselhaaren, nachsynchronisiert und von einer Spielfreude und Unschuld, die heute Staunen macht. New York war das Mekka der Szene, nicht LA. Chris hatte auch viele schöne Ausschnitte mitgebracht (allerdings jugendfrei eingekürzt).

Am Anfang wollte ich Christian noch widersprechen: Zwar ist der Porno über die letzten 3 Dekaden immer billiger und beliebiger geworden, aber gerade in den letzten zehn Jahren gibt es auch wieder den Event-Sexfilm, der mit großem Aufwand versucht, Hollywood nahe zu kommen. Es bietet sich der Vergleich des von Christian präsentierten “Captain Lust” mit “Pirates” an. Aber es stimmt letztlich schon: Der Porno des neuen Jahrtausends mag mit Budget und Spezialeffekten Respektabilität heucheln – aber er ist verkrampft, unironisch, leblos, und doch wieder erbärmlich einfallslos, sobald die Lustsäfte fließen. Wer das nicht glauben mag, kann sich gerne das “Alice in Wonderland”-Sexmusical von 1976 als Gegenbeispiel ansehen.
captain lustdop
Zwei Stunden vergingen auf jeden Fall wie im Flug, und es war schon nach Mitternacht, als Christian uns auf das Screening seines persönlichen Favoriten vorbereitete: “The opening of Misty Beethoven”, ein “Pygmalion”-Porno von Erotik-Ikone Radley Metzger. Da musste ich allerdings leider passen, denn ich war nicht nur totmüde, sondern auch erpicht darauf, in dieser Nacht noch heim nach München zu kommen. Ich kaufte das Buch “Die läufige Leinwand”, ließ es mir signieren, drängte den Doc, das obige Foto zu schießen, und machte mich auf den Weg.

Es war ein schöner Abend, der mich an meine Teenager-Zeit erinnerte, als ich mit Kumpeln regelmäßig alles guckte, was als irgendwie absonderlich galt. Als ich im Nachlass meines Vaters eine Handvoll Video2000-Pornos fand, die mich mit Ginger Lynn und Lisa de Leeuw bekannt machten. Als Amanda Lear sich für die “High Society” auszog. Als ein erotisches Highlight Sybille Rauch war, die sich in “Eis am Stil” über den Frühstückstisch beugte und dabei Einblick in ihr Kleidchen gab. Katja Bienert, Traci Lords, Samantha Fox (beide), Victoria Principal. Schulmädchen und Playmates. Pornos auf Super8, Magazine aus Dänemark.

die_laeufige_leinwand Es war genau das, was ich am Freitag brauchte, um zwei Stunden lang abzuschalten, die momentanen familiären Dramen zu verdrängen. Wenn schon nicht für alles andere, so danke ich Doc Acula und Chris Kessler zumindest dafür von ganzem Herzen.

NACHTRAG: Mittlerweile habe ich einen großen Teil von Christians Buch verschlungen. Es ist für Freunde des ambitionierten Porno-Klassikers eine wahre Fundgrube und eine wunderbar witzige Lektüre mit genau dem notwendigen Quentchen Tiefgang. Mehr Empfehlung geht nicht. Die Teile, die er aus dem Manuskript aus Platzgründen rauskürzen musste, finden sich praktischerweise hier.



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comicfreak
comicfreak
13. März, 2011 13:21

..seh kein Foto 🙁
Schön, dass ihr ´nen schönen Abend hattet! 🙂

Wortvogel
Wortvogel
13. März, 2011 13:31

@ comicfreak: Sorry, der Artikel ging nur aus Versehen online – unvollständig. Jetzt ist er fertig.

Thies
Thies
13. März, 2011 14:42

Ich war vorletzte Woche bei der Buchvorstellung in Hamburg – war ein wirklich schöner Abend. Und die XXX-Version von “Alice im Wunderland” war wirklich ein Knaller. Oder dieser Film mit dem Trapezakt “Die fliegenden Ficker”! 😀
Christian Kesslers Vortrag war sehr locker und flüssig und hätte ich die Augen geschlossen, dann hätte ich mich fast der Illusion hingeben können, dass Max Goldt sich für sein neues Buch für einen krassen Themawechsel entschieden hat.
Das Buch ist sehr schön aufgemacht und macht großen Spaß beim Lesen. Man sollte dies aber vielleicht eher nicht im Café oder in der U-Bahn machen – man muß zwischendurch doch immer mal wieder laut lachen und wenn dann die Umstehenden bemerken, was man da für einen Schweinkram in der Hand hält, könnte es zu peinlichen Situationen kommen. 😉

Wortvogel
Wortvogel
13. März, 2011 14:45

@ Thies: Wenigstens ist das Cover unverfänglich 😉

Dietmar
Dietmar
13. März, 2011 15:22

“Ich verbringe mein Leben derzeit … in Krankenhäusern”
Das hatte ich die letzten Wochen/Monate mit unhappy ending. Ich drücke die Daumen.

heino
heino
13. März, 2011 18:32

Kessler ist klasse, ich lese seine Artikel in der SI immer wieder gerne. Vor allem, weil der sich wirklich jeden Mist reinzieht, nur um dann einen witzigen Artikel drüber schreiben zu können. Ich will gar nicht wissen, wieviel Lebenszeit der vor der Glotze verschwendet hat

reptile
reptile
13. März, 2011 19:09

Also die King Story klingt ja sehr interessant, findet man dazu irgendwo mehr?

Achim
Achim
13. März, 2011 19:13

@Dietmar
so ging mir das Anfang 2010, ich fühle mit dir.

Peroy
Peroy
13. März, 2011 20:52

Man beachte das feiste Autoren-Grinsen auf dem Foto… Zwillinge, bei der Geburt getrennt…

Peroy
Peroy
13. März, 2011 20:56

“Das hatte ich die letzten Wochen/Monate mit unhappy ending. Ich drücke die Daumen.”
Um mal etwas die Stimmung zu heben: Meine Oma kam über Weihnachten ins Krankenhaus und offenbar können sich selbst 89jährige mit gebrochenen Hüften und anschließendem Herzinfarkt tatsächlich wieder berappeln…

Dietmar
Dietmar
13. März, 2011 21:02

“Zwillinge, bei der Geburt getrennt…”
Hihihi!

reptile
reptile
13. März, 2011 22:56

Das mit den Zwillingen hat was.
War auf den ersten Blick auch etwas irritiert:-)

DMJ
DMJ
14. März, 2011 14:59

Ich bin erleichtert, dass noch mehr Leute den Zwillingsgedanken hatten – denn ich muss gestehen, auf den ersten Blick war ich tatsächlich irritiert, wer denn nun wer ist.