02
Nov 2009

Das Haus auf der anderen Straßenseite…

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haus

… ist kein schönes Haus. In unserem Viertel ist es sogar sowas wie ein Schandfleck. Der Putz bröckelt ab, die blass-blaue Farbe ist fleckig, und in den verzogenen Fenstern hängen dicke, von Schmutz und Nikotin trübe Gardinen, die sich nie bewegen, und bei Berührung vielleicht zu Staub zerfallen. Abends, wenn in den Wohnzimmern zur Straße mattes Licht scheint, kann man viel Gerümpel sehen, und auf den Fensterbrettern stehen seit Jahren Schalen mit Styroporkugeln verschiedener Größe, die jemand in Alufolie gewickelt hat. In einer Wohnung schwenkt manchmal eine Taschenlampe hin und her, als gäbe es keine reguläre Beleuchtung mehr.

Das ist alles, was ich vom kleinen Haus auf der anderen Straßenseite weiß. Ich kenne auch die Menschen nicht, die kaum sechs Meter Luftlinie von mir wohnen. Immer wieder sehe ich Leute, die durch die Haustür treten – aber es sind immer wieder andere. Es gibt keine Kontinuität. Vor Jahren gab es einen alten, gebeugten Mann, der so aussah, als schlurfe er müde zur Kneipe – oder käme gerade von ihr zurück. Wir haben an der Haustür einmal zwei Sätze gewechselt: er sagte, er sei Uhrmacher gewesen, ganz früher. Ich erzählte, dass mein Großvater denselben Beruf hatte. Das war’s.  Seit mindestens vier Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich ist er weggezogen.

Ich ärgere mich manchmal, dass das Haus so verfällt, in direkter Sichtweite. Es würde der ganzen Straße gut tun, wenn mal richtig renoviert werden würde in dem Haus auf der anderen Straßenseite.

Gestern komme ich aus Leipzig zurück. Zwei Paket-Benachrichtigungen liegen im Briefkasten. Eine informiert mich, dass ein Päckchen beim Alten-Pflegedienst an der Ecke abgegeben worden ist. Das kenne ich schon – Pflegedienst oder Teeladen sind die Anlaufstellen der Paketboten, wenn ich nicht daheim bin.

Paketkarte 2 gibt als Adresse “Böhme, Obere Grasstraße 1” an. Ich weiß zuerst nicht einmal, welches Haus das ist. Ein Nachbar mit dem Namen Böhme ist mir unbekannt. Seltsam. Ich trete aus meiner Haustür.

Nummer 1 ist das Haus auf der anderen Straßenseite.

Ich fluche innerlich ein wenig – es ist kein Haus, bei dem man klingeln mag. In sowas wohnen nur Menschen, mit denen man vermutlich nichts zu tun haben möchte. Aber ich will mein Päckchen.

Fieses Klingelbrett – ein Sammelsurium aus Papier, Klebstoff, Kugelschreiber, Plastik. Teilweise unleserlich. Bis auf ein ordentliches Messingschild: “Böhme – Uhrmacher”. Ich bin überrascht. Das Schild habe ich auch im Vorbeigehen nie gesehen. Ich klingle. Es dauert. Drinnen, im Flur, höre ich eine Wohnungstür klacken. Die Haustür ist nur angelehnt. Ich drücke sie vorsichtig auf, rufe halblaut: “Hallo?!”.

Ein uralter Hausflur ohne Charme, schmal und dunkel, Architektur aus Sperrmüll, führt nach hinten in einen verwahrlosten Hof mit Gestrüpp. Es riecht. Rechts ist eine Wohnungstür nur angelehnt. Ich rufe noch einmal. Nichts passiert. Ich will mein Paket.

Sachte stoße ich die offene Wohnungstür an, sie schwingt auf. Keine Wohnung – ein Apartment aus einer Zeit, als man das vielleicht noch “Herrenzimmer” nannte. Viel zu große, viel zu alte Schränke und Kommoden, aufgestellt ohne Sinn und Verstand, ersticken den Raum. Es sieht mehr nach Abstellkammer als nach Lebensraum aus. Es riecht.

Da ist Herr Böhme.

Es ist der alte Mann mit der Pendlerverbindung Wohnung – Kneipe. Den ich seit vier Jahren nicht mehr gesehen habe. Sein Gesicht ist etwas eingefallener als früher, sein Haar noch etwas weißer. Aber er wirkt klarer, präsenter.

Er ist nicht weggezogen. Er sitzt in einem klapperigen Rollstuhl. Unter dem Handtuch, das auf seinem Schoß liegt, sehe ich, dass man ihm beide Beine amputiert hat. Ich frage behutsam nach meinem Päckchen. Er greift hinter sich, reicht es mir. Er spricht nur das Nötigste, aber er tut es freundlich, ohne den Groll, den so viele alte kranke Menschen auf die Welt haben.

Eine Sekunde lang überlege ich, ob ich mich mit ihm ein wenig unterhalten soll. Worüber? Ich lasse es. Und ich bin froh, als ich die paar Schritte zurück in mein Haus geschafft habe. In mein sauberes, aufgeräumtes, frisch gestrichenes, und wohlriechendes Haus.

Aber etwas hat sich verändert, und ich merke es sofort.

Das Haus auf der anderen Straßenseite ist nicht mehr “das Haus auf der anderen Straßenseite”. Es ist jetzt das Haus, in dem Herr Böhme wohnt. Der war mal Uhrmacher. Beide Beine mussten sie ihm abnehmen. Kann einem leid tun.



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Jim
Jim
2. November, 2009 15:02

Hmm, sowas gibt einem denn zu denken. Tatsächlich gibt es so ein Haus in jedem Viertel in jeder etwas größeren Stadt, wahrscheinlich mehr solcher Existenzen wie Herrn Böhme, als wir gemeinhin annehmen. Aber was lernen wir jetzt aus diesem Text? Ich vermute mal, dass du den zivilcouragierten Nachbarn nicht spielen wirst oder kannst, nötig wäre es wohl allemal. Zumal du ihn ja auch flüchtig so beschreibst, als hätte er mit dem Leben an sich noch nicht völlig abgeschrieben, da er scheinbar nicht verbittert ist und eventuelle aufrichtige Hilfe sogar annehmen würde.
Also, was nun tun?

Wortvogel
Wortvogel
2. November, 2009 15:09

@ Jim: Ich glaube nicht, dass es etwas “zu tun” gibt. In seiner kleinen Welt ist Herr Böhme anscheinend nicht unglücklich. Was er ist, hat sein Leben aus ihm gemacht, und das liegt nach wie vor in seiner Hand. Ich wollte kein Mitleid schüren, oder ein Pamphlet zur Nachbarschaftshilfe schreiben – es lag mir nur daran, dieses kleine Erlebnis in eine Miniatur zu fassen. Das Haus war für mich bis dato eine Non-Entität gewesen, ein amorpher Klotz ohne Inhalt oder Sinn. Nun hat es Substanz, Wesen, und Bezug.

Jim
Jim
2. November, 2009 15:22

Okeh, ich habe mir schon gedacht, dass du es aus genau diesem Grunde niedergeschrieben hast. Oft gibt es eben so ‘ne Beobachtungen, die einem etwas moraltheologisches à la liebe deinen Nächsten einreden wollen. An sich aber sehr interessant, weil auch ich Gebäude kenne, die jeder Funktion entbehren, obwohl jemand ganz offensichtlich dort lebt. Recht typisches Beispiel bei dir, dass einfach der Zufall dich in dieses Haus führte und du jetzt etwas damit verbinden kannst. Nimmt einem schon das Unbequeme und Unbekannte. Wer weiß, ob es nicht doch ein wenig Eis gebrochen wurde für diesen Menschen.
Nun gut, ich hab eigentlich nicht mehr dazu zu sagen, ich mag eben Geschichten und Schicksale weil ich eben dies selber bin.

Marko
2. November, 2009 15:40

Schön geschrieben, wobei ich den Schlußsatz “kann einem leid tun” bei aller gebotenen Objektivität als irgendwie zu schal empfinde — ich kann mir keine Situation vorstellen, in der es mir NICHT leid täte, daß jemandem, den ich nicht näher kenne, die Beine abgenommen werden mussten. 😕

Gruß,
Marko

Wortvogel
Wortvogel
2. November, 2009 15:45

@ Marko: Abgesehen davon, dass ihn meine Stilentscheidungen natürlich nicht rechtfertigen muss, geschah das doch durchaus mit Absicht. Wenn du mal genau hinschaust: die letzten beiden Zeilen sind die beiläufige Beschreibung, mit der man nun einem Bekannten von dem Haus erzählt. Ebenso, wie man es vorher “das Haus auf der anderen Straßenseite” nannte. Ich habe die Beschreibung an der Stelle bewusst auf die oberflächliche Ebene gesetzt.

PabloD
PabloD
2. November, 2009 16:09

[…]Es sieht mehr nach Abstellkammer als nach Lebensraum aus. Es riecht.

Da ist Herr Böhme.

[…]

Hier dachte ich tatsächlich, dass am Ende der Story ein Leichenwagen die Straße entlang fährt. Man merkt wirklich, dass du beruflich ab und zu Spannungsbögen aufbauen musst.

zu-schauer-lich
2. November, 2009 16:18

BTW: vor einiger zeit, in einem längst verloren gegangen kommentar hier, habe ich mal erwähnt, dass ich ein altes haus gekauft und renoviert habe. inzwischen bin ich eingezogen und habe die direkten nachbarn eingeladen. es war fast surreal. da wohnen menschen jahrzehnte nebeneinander in der selben straße und begegnen sich zum ersten mal in meinem wohnzimmer. brilliant war es, als meine gartennachbarin (von hinterm haus) und meine nachbarn von gegenüber (andere straßenseite) feststellten, dass sie sich kennen, von früher, aus ihrer jugend (die schon lange her ist) und jetzt seit 15 jahren 200m luftlinie auseinander wohnen. (übrigens kleinstadt, randgebiet, dörflich)…

faby, Botschafter des Lächelns
2. November, 2009 17:13

“Everybody’s got a story” ich glaube, dieses problem kennt jeder von uns, dass unsere ersten Eindrücke ein falsches, oft im nach hinein beschämendes Bild hinterlassen.
Vielen Dank für die Geschichte, sie erinnert uns daran, nicht sofort zu urteilen. Ich finde sie toll.

René
René
2. November, 2009 17:16

Also, ich bin seit einiger Zeit sehr glücklich mit einer Packstation ganz in meiner Nähe. Dort kann man die Pakete rund um die Uhr abholen. (Keine Werbung)

reptile
reptile
2. November, 2009 17:20

Gut geschrieben. Macht nachdenklich.

Wortvogel
Wortvogel
2. November, 2009 17:23

@ René: Ich habe sogar eine Packstation schräg gegenüber, gerade mal 100 Meter entfernt. Hilft nur nix, wenn die Päckchen da nicht landen…

René
René
2. November, 2009 17:27

@wortvogel: Die Packstation hat eine eigene Adresse und man selbst bekommt eine Nummer – ist aber nur für dhl-Päckchen möglich.

Wortvogel
Wortvogel
2. November, 2009 17:28

@ René: Eben – ich bekomme ständig Päckchen von anderen Lieferunternehmen. Leider.

Mathias
Mathias
2. November, 2009 18:23

Der letzte Absatz ist besonders toll. Danke.

Michael P.
Michael P.
2. November, 2009 19:31

Hmm… ich find’s ja sehr schön geschrieben, aber: Was würde der gute Herr Böhme sagen, wenn er wüsste, dass jemand – mit Angabe seines Namens, seiner Adresse und einem Foto des Hauses, in dem er wohnt – eine solche Geschichte veröffentlicht? Mir persönlich wäre das ehrlich gesagt ziemlich unangenehm, vor allem mit Blick auf einige Details (“riechende” Wohnung zum Beispiel). Er wird’s zwar wahrscheinlich nie erfahren, aber ändert das etwas?

Wortvogel
Wortvogel
2. November, 2009 19:38

@ Michael P.: Die Frage habe ich mir gestellt. Und mich entschieden, die Verantwortung dafür auf mich zu nehmen. Herr Böhme hat mit Sicherheit kein Internet, auch keinen Computer. Es ist nicht zu erwarten, dass er Nachteile durch diesen Beitrag hat. Und ich stelle ihn ja auch nicht in negativem Licht dar. Man beachte bitte: ich habe gesagt “es riecht”, nicht “es riecht schlecht”. Der Beitrag soll Mitgefühl (nicht Mitleid) provozieren. Es geht um den dokumentarischen Charakter. Kann man das als Einbruch in seine Privatsphäre sehen? Kann man. Aber wie gesagt: ich habe mich entschieden, so zu handeln.

Dietmar
Dietmar
2. November, 2009 23:39

Keine Frage: Du kannst schreiben. Sehr gelungen!

(Ich freue mich auf ,,Hope” …)

Lukas
3. November, 2009 01:26

Wow. Es sind Texte wie dieser, die Autoren von einfachen Bloggern unterscheiden.

om
om
3. November, 2009 09:49

ich hab geweint….

yay
yay
3. November, 2009 13:41

toller text. macht nachdenklich…

danke wortvogel

Dietmar
Dietmar
3. November, 2009 14:08

Gerade meinem fast 8-Jährigen (legt er Wert drauf) Sohn vorgelesen. Seine Reaktion: ,,Tolle Geschichte!”

Asmodeus
Asmodeus
3. November, 2009 14:14

Sehr schön zu lesen.

Vorher ein Haus von vielen, ohne Persönlichkeit oder Seele. Wie eine Biene auch nur eine von vielen ist.

Jetzt auf einmal das Haus von Herrn Böhme, Uhrmacher. Jetzt keine Biene mehr, sondern ein Mensch mit Persönlichkeit und einem ICH.

Andi
Andi
3. November, 2009 21:38

Fein beobachtet (eigentlich müsste ich sagen: sensibel empfunden), gut geschrieben. Respekt.

Erik
Erik
4. November, 2009 21:28

Zu wenige kennen den Unterschied zwischen Mitgefühl und Mitleid. Danke für den Artikel.

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[…] fing mit einer kleinen Geschichte an, die ich über das Haus erzählen wollte, dem ich 2009 gegenüber wohnte. Ein kleines, […]